Freitag, 25. Januar 2013

São Paulo repräsentativ und 16 ganz persönliche Meinungen zur Megacity

Im Kontext des 459. Geburtstags der Stadt São Paulo am 25. Januar führte das renommierte Meinungsforschungsinstitut IBOPE (Instituto Brasileiro de Opinião Pública e Estatística) eine repräsentative Untersuchung zur Lebensqualität in der Stadt durch, die ergeben hat, dass die überwiegende Mehrheit der Paulistanos mit dem Leben in der Stadt unzufrieden ist.
Auf einer Skala von 1 bis 10 wurden für die Lebensqualität 4.7 Punkte vergeben. Dies ist das schlechteste Ergebnis seit Beginn der Umfrage vor vier Jahren.
Die öffentliche Sicherheit hat sich als eine der größten Sorgen der Paulistanos herausgestellt. Laut der Umfrage glauben 91 Prozent der Befragten, dass es wenig oder gar nichts sicher ist, in der Stadt zu leben. Der Punkt, der von den meisten Befragten in diesem Zusammenhang genannt wurde, war „Gewalt im Allgemeinen“, gefolgt von „Raub/Diebstahl“.
56 Prozent der Befragten gaben sogar an, dass sie die Stadt verlassen würden, wenn sie könnten.
Von 169 Nennungen bekamen 82 Prozent negative Bewertungen. Auch die Hauptthemen der Stadt wurden negativ bewertet: Bildung erhielt einen Notendurchschnitt von 4,8 – im vergangenen Jahr lag dieser bei 5. Die Note für den Gesundheitsbereich fiel von 5,1 auf 4,8. Die Stadtverwaltung wurde von 35 Prozent als schlecht oder sehr schlecht eingestuft.
Die Umfrage zeigte auch ein geringes Maß an Vertrauen in die öffentlichen Institutionen. Diejenigen, denen das höchste Maß an Misstrauen entgegengebracht wird, waren der Stadtrat (69%), der Rechungshof der Stadt (64%), die Polícia Civil (60%) und die Polícia Militar (60%).
Zur Untersuchung befragt, unterstrich der 49-jährige Fernando Haddad, der am 1. Januar 2013 als Bürgermeister vereidigt wurde, die Komplexität der zu lösenden Probleme und fügte scherzhaft hinzu, dass Bürgermeister von São Paulo zu sein, in die Liste der Extremsportarten aufgenommen werden sollte (“Deveria ter na lista de esportes radicais: prefeito de São Paulo”.)
Ein so vernichtendes Urteil hätte ich selbst in meiner akuten Heimwehphase im vergangenen Dezember über São Paulo nicht gefällt. Wie sehen die Menschen in meinem Umfeld die Megacity? Beurteilen die Deutschen, Schweizer, Paulistanos, Cariocas, mit denen ich unmittelbar in Verbindung stehe, die Stadt ebenso kritisch, wie die Teilnehmer der repräsentativen Umfrage?
16 ganz persönliche Meinungen zur Megacity
Sönke Böge (*1938) Unternehmerberater, Networker seit 1976 in SP
Stadtteil:
Jardim Marajoara, Geburtsort: Kiel, Stationen: Hamburg, Santiago de Chile (10 Jahre), Buenos Aires (3 Jahre), Lima (1 Jahr), Rio de Janeiro (2 Jahre), Zusatz: Die Kinder und Enkelkinder sind in São Paulo geboren.
„Für mich ist São Paulo weltweit die Stadt mit der stärksten Persönlichkeit. Sie polarisiert, denn man kann sie nur lieben oder hassen. Sie zerreißt einen und bietet gleichzeitig Orte der Ruhe und des Friedens. Sie ist unglaublich dynamisch, vielfältig, abwechslungsreich – ein Kaleidoskop. Hier hat man alles, wenn man die Bedingungen der Stadt akzeptiert.
Die verschiedenen Welt liegen dicht beieinander – die Sala São Paulo, die Stätte der Hochkultur, ist nur wenige Meter von Cracolândia, der Drogenhölle der Stadt, entfernt und doch liegen Galaxien dazwischen.“
Heloisa Bruck Pereira (*1958) Vereidigte Übersetzerin, Englisch für Erwachsene; Portugiesisch für Ausländer Paulistana
Stadtteil: 
Brooklin, Geburtsort: Marília (SãoPaulo), Stationen: London (2 Jahre)
„Die unkomplizierte Verfügbarkeit all dessen, was ich brauche, schätze ich sehr, ebenso die Servicequalität. Die Privatsphäre, die die Stadt ermöglicht – die Tatsache, dass sich niemand in das Privatleben einmischt – begrüße ich. Auch denke ich, dass die religiöse, kulturelle, sexuelle und ethnische Vielfalt in São Paulo positiv hervorzuheben ist.
Negativ sind der Schmutz, die schlecht gepflegten öffentlichen Anlagen – die Bürgersteige, Plätze und Straßen. Weitere ernste Probleme sind die Gewalt, die Armut auf den Straßen der Stadt, die Bettler, die Straßenkinder und die vielen Drogenabhängigen.“
Ursula Altenbach (*1958) Künstlerin seit 1999 in SP
Stadtteil: 
Alto da Boa Vista, Geburtsort: Luzern, Stationen: Saudi-Arabien, Zürich, Rio de Janeiro, Stuttgart, Kopenhagen, São Paulo
„São Paulo ist eine Metropole mit vielen Gesichtern. Auf den ersten Blick erscheint sie als gnadenlose, alles verschlingende Macht. Doch ich habe mich hier von Anfang an sehr wohlgefühlt, nicht zuletzt aufgrund der zahlreichen internationalen Clubs, die Austausch und Hilfestellung bieten. Auch ich habe mich gerade in der letzten Zeit im INC (The International Newcomers Club of São Paulo) engagiert und habe bei den Newcomern, die ich persönlich betreut habe, ganz unterschiedliche Reaktionen auf die Stadt erlebt – von Irritation bis Faszination reichte das Spektrum.
Mich persönlich fasziniert die multikulturelle Stadt sehr. Kunst, Theater, Musik, Kulinarik befinden sich hier auf höchstem Niveau. In diesen Bereichen steht São Paulo New York in nichts nach.
Sicher, es gibt auch die ein oder andere Schattenseite – der Verkehr ist unbeschreiblich und auch der Zustand des öffentlichen Systems ist beklagenswert – auch wenn sich hier in den vergangenen Jahren bereits einiges getan hat. Meine Kinder, die inzwischen in der Schweiz leben, sind hier aufgewachsen. Für sie ist São Paulo ihre Heimat.“
Vera G. von Sothen (*1959) Heilpraktikerin (arbeitet vorwiegend mit Bachblüten und Jin Shin Jyutsu) seit 1982 in SP
Stadtteil:
Alto da Boa Vista, Geburtsort: Brüssel, Stationen: Brüssel (1959), Genua/Italien (1960-1963), Lima/Peru (1964-1967), Rio de Janeiro (1967), Bonn/Bad Godesberg (1967-1970), Asuncion/Paraguay (1970-1975), Rio, Hamburg (1978-1981), Rio (1981)
„São Paulo ist einerseits eine faszinierende Stadt: wegen der Vielfalt; wegen des Angebots, wegen des Adrenalins, wegen der Möglichkeiten, die sie bietet, wegen des internationalen Flairs. Andererseits ist São Paulo wie ein Vampir, der sich von unserer Energie ernährt.
Vorige Woche sind wir aus den Ferien zurückgekommen. Wir waren im Nordosten, in Maceio und Salvador und in Barretos im Landesinneren São Paulos. Mir fiel auf, wie viel schneller ich sein musste, um mich wieder dem Rhythmus dieser Stadt anzupassen. Sonst würde ich nicht mitkommen und überfahren, überrumpelt werden. São Paulo laugt einen aus!“
Hans Dieter Temp (*1964)
Betriebswirt, Techniker für Landwirtschaft und Umweltpolitik; Gründer der Organisation “Cidades sem Fome” („Städte ohne Hunger“) seit 1998 in SP
Stadtteil: 
Aricanduva, Geburtsort: São Borja (Rio Grande do Sul) – Deutsch-Brasilianer der dritten Generation, Stationen: Rio de Janeiro (10 Jahre), Tübingen (3 Jahre)
„In der Peripherie von São Paulo habe ich wunderbare Menschen mit viel Potential kennen gelernt. Zahlreiche dieser arbeitssamen Menschen sind vor Jahrzehnten der Dürre und dem Hunger im Nordosten des Landes entflohen – in der Hoffnung auf ein besseres Leben in die Megacity. Diese erste Generation der Neuankömmlinge hat sich angestrengt, damit das Elend durchbrochen wird, hat alles daran gesetzt, den eigenen Kindern ein Studium und damit bessere Jobs zu ermöglichen. Das finde ich großartig. Nun benötigt die Generation der Väter und Mütter eine kleine Hilfe, damit sie wieder laufen kann und auch im Alter in der neuen Heimat zurechtkommt. Hier setzen wir mit unserer Arbeit an.
São Paulo hat viel zu bieten. Jeden Tag treffen hier Menschen aus den unterschiedlichsten Kulturen zusammen. Die verschiedenen Einflüsse sind eine Bereicherung für die Stadt. Mein Wunsch ist es, ein Sozialprojekt anzustoßen, das so viele Kulturen wie möglich einbindet.“
Marcelo Greco (*1966) Fotograf Paulistano
Wohnort in SP: 
Granja Vianna in Carapicuiba (São Paulo), Geburtsort: São Paulo,Stationen: Rom (1 Jahr) und zahlreiche Reisen innerhalb Europas und den USA
„Für mich ist São Paulo eine ausgesprochen spannende Stadt. Sie ist hässlich und gleichzeitig interessant – mit ihrem ganz eigenen Charme. Manchmal ist sie grausam und dann wieder sehr großzügig mit Menschen aus allen Teilen dieser Welt. Ihre wohl bemerkenswerteste Eigenschaft ist das Gefühl von Einsamkeit, das mit ihr verbunden ist. Über 11 Millionen Menschen leben in der Stadt. Doch jeder von ihnen ist isoliert, allein, eingeschlossen in seiner eigene Welt.“
Eliane Santana Silva (*1973) Haushaltshilfe Baiana, seit 1995 in SP
Wohnort in SP:
Jardim dos Álamos (Parelheiros), Geburtsort: Salvador da Bahia
„In São Paulo gibt es Arbeit, aber auch Freizeitmöglichkeiten. Mit meinen Kindern mache ich gern Ausflüge. Schlecht ist es, mit der Metrô oder dem Omnibus zu fahren. Da ist es sehr eng. Man fühlt sich wie in einer Sardinenbüchse. Auch die Gewalt ist schlimm. Und für die Kinder und Jugendlichen wird zu wenig getan. Die Regierung sollte mehr Geld für Schulen, Ausbildung, Kurse und für die Gesundheit ausgeben.“
Valeria Belitz França (*1972) Ökonomin Carioca, seit 2000 in SP
Stadtteil:
Morumbi, Geburtsort: Rio de Janeiro – (deutsche Mutter) – erste Generation,Auslandsreisen: USA, Frankreich, Spanien
„Wenn ein Paulistano oder eine Paulistana erfährt, dass ich “Carioca” bin (aus Rio de Janeiro stamme), werden mir unmittelbar folgende Fragen gestellt: „Warum um alles in der Welt hast Du Rio verlassen? Vermisst Du die Strände nicht?“ Nun, ehrlich gesagt vermisse ich sie nicht, doch manchmal habe ich Sehnsucht nach Lagoa und den umliegenden Bergen [Lagoa (Lagune) ist ein Viertel mit vielen Parks und Plätzen in der Südzone Rio de Janeiros].
Ich betrachte es als großes Privileg, den Ozean und den weichen Sand der Copacabana als „Garten“ meiner Kindheit bezeichnen zu können. Doch im Erwachsenenalter begann ich mich nach einer kosmopolitischeren Atmosphäre zu sehnen. Rio ist geprägt vom Tourismus, seinen Stränden und der Sonne, São Paulo hingegen ist die Businessmetropole Südamerikas. Als sich die Möglichkeit ergab, mich hier beruflich zu etablieren, habe ich die Chance genutzt. Ich wurde freundlich, mit offenen Armen empfangen und habe mich hier stets zuhause gefühlt. Danke, São Paulo!“
Marcelo Fraenkel (*1976) Diplom-Jurist, Übersetzer seit 2011 in SP
Stadtteil: 
Campo Limpo, Geburtsort: Coesfeld (NRW), Stationen: Coesfeld, Braunschweig, Berlin, München (25 Jahre), São Paulo (9 Jahre), USA und England, Zusatz: Die Eltern sind gebürtige Paulistanos.
„Im sogenannten Land der Gegensätze hat auch São Paulo seine Gegensätze: Der Unterschied zwischen der „Periferia“ – den die Stadt umschließenden Außenbezirken – und den wohlhabenden Stadtteilen um den (seinerseits heruntergekommenen) Stadtkern könnte größer nicht sein: leere Straßen und eingezäunte (-mauerte) (Hoch-)Häuser auf der einen Seite – Musik, Einfachheit, Offenheit, Freundlichkeit und eine bestimmte Natürlichkeit, mit der sich die weniger privilegierte Schicht ohne Klagen über Wasser hält, auf der anderen Seite. Man könnte vereinfacht auch sagen: In der Periferia São Paulos ist (insbesondere an den Wochenenden) das ganze Jahr über Karneval. Trotz Nachteilen wie größerer Armut und einem geringen Bildungsniveau ziehe ich persönlich die Periferia vor.“
Rafael Ferreira dos Santos (*1981) Taxifahrer Paulistano
Stadtteil: 
Jardim Marajoara, Geburtsort: São Paulo
„Positiv ist die Erreichbarkeit aller Orte. Es gibt eine große Auswahl an Freizeitangeboten und Restaurants. Auch das (meteorlogisches) Klima ist die Stadt ist ein großer Pluspunkt. Negativ sind der Verkehr und der Mangel an Sicherheit.“
Victoria Bruck Pereira Olivares (*1991) Studentin Paulistana
Stadtteil: 
Brooklin, Geburtsort: São Paulo
„Ich schätze die vielfältigen Chancen auf dem Arbeitsmarkt, das große Angebot an Freizeitmöglichkeiten und die außerordentliche kulturelle Vielfalt der Stadt. São Paulo ist jedoch eine sehr gefährliche Stadt, was mich persönlich ungemein stört. Auch ist die Stadt sehr teuer und die öffentlichen Verkehrsmittel lassen sehr zu wünschen übrig.“
Lucilene F. Nascimento (*1992) Kassiererin Paulistana
Stadtteil: 
Grajaú, Geburtsort: São Paulo
„São Paulo bietet eine große Vielfalt an Möglichkeiten, in der Stadt hat man wirklich alles. Auf der anderen Seite empfinde ich São Paulo wenig gemütlich oder freundlich. Die Menschen sind ausgesprochen fixiert auf ihre Arbeit und sehr gestresst. Beklagenswert ist auch die Vernachlässigung der “Periferias”, der Außenbezirke.“
Carlos Augusto Bruck Pereira Olivares (*1995) Schüler      Paulistano
Stadtteil: 
Brooklin, Geburtsort: São Paulo
„In São Paulo kann man viele Dinge unternehmen wie in Parks oder ins Kino gehen. Auch abends gibt es zahlreiche Möglichkeiten auszugehen. Das gefällt mir an der Stadt. Mich stört, dass São Paulo sehr gefährlich ist, eine hohe Kriminalitätsrate hat und ist sehr teuer.“
Philipp Fayterna (*1997) Schüler seit 2012 in SP
Stadtteil:
Jardim Marajoara, Geburtsort: Heidelberg, Stationen: Heidelberg (1997-1999), Frankreich (1999-2000), São Paulo (2000-2004), Heidelberg (2005-2011)
„Für mich ist São Paulo eine dreckige und riesige Stadt, in der auch Gewalt eine so große Rolle spielt, dass man sich schon Sorgen um sich selbst machen muss.
São Paulo hat im Vergleich zu anderen Metropolen (Shanghai, selbst gesehen) viel Grün, d.h. viele Parks und kleine „Dschungel“. Aber zum Leben ist diese Stadt nicht so geeignet, denn durch die vielen Hochhäuser ist der Wohnraum deutlich kleiner.
Gut finde ich, dass die Stadt versucht, die Favelas nach und nach abzubauen und den Verkehr zu retten. Das ist aber sehr schwierig.“
João Pedro Henrich (*1997) Schüler seit 2012 in SP
Stadtteil: 
Vila Mascote, Geburtsort: Bonn, Zusatz: Die Mutter ist Brasilianerin, der Vater Deutscher.
„São Paulo ist eine sehr lebendige Stadt und das ist einer der Punkte, die mir nicht sehr gefallen, wie auch die Hochhäuser. Aber São Paulo hat auch Vorteile, wie zum Beispiel die Wärme der Menschen, die mit dir ausgehen und sich mit dir unterhalten, obwohl sie dich gar nicht kennen. Das Essen gefällt mir auch sehr gut und dass man hier viel Sushi isst. Das habe ich übrigens zum ersten Mal in São Paulo probiert!
In São Paulo habe ich schnell eine Menge Freunde gefunden, mit denen ich immer ausgehe und mich amüsiere.“
Max Fayterna (*1999) Schüler seit 2012 in SP
Stadtteil: 
Jardim Marajoara, Geburtsort: Senlise (Frankreich), Stationen: Frankreich (1999), São Paulo (2000-2004), Heidelberg (2005-2011)
„Ich finde es in Brasilien einfach nur genial, denn man kommt meist zügig an den Strand und man findet schnell Aktivitäten im Landesinneren. Trotz der Armut und der Gewalt finde ich die Menschen hier sehr freundlich.
Für mich ist es auch sehr interessant, mal durch sogenannte “Comunidades” (Favelas) zu fahren, denn dort war ich noch nie. Gehört habe ich, dass dort alles sehr eng, auf kleinstem Raum sein soll. Ich persönlich mache mir eigentlich wenig Gedanken, dass ich oder meine Familie überfallen werden. Trotzdem vermeiden meine Eltern natürlich die Wege an einer “Comunidade”.“

Freitag, 18. Januar 2013

Panoramafreiheit oder auch Straßenbildfreiheit

Mein Mann lebte keine zwei Monate in der Megacity, als ich ihn zum ersten Mal besuchte, und wir – aus rein touristischem Interesse – die ersten Fotos schossen, um unsere Eindrücke für die Ewigkeit festzuhalten.
Der Komplex rund um das Hilton São Paulo hatte es uns angetan, denn architektonisch ist das Ensemble mit Blick auf die Ponte Estaiada Octávio Frias de Oliveira, eine Schrägseilbrücke über den Rio Pinheiros – das Wahrzeichen der Megacity – sehr beeindruckend. Doch kaum hatte mein Mann seine damals noch klitzekleine Nikon-Digitalkamera in Schussposition gebracht, brauste ein Sicherheitsmann auf seinem Motorrad an und machte unmissverständlich klar, dass Fotografieren dort nicht erlaubt sei.
Viele Monate später flanierten wir auf der Avenida Brigadeiro Faria Lima und bewunderten die Auslagen von Tiffany & Co., als mein Mann plötzlich zur Kamera griff, um die wunderschönen Juwelen im Bild festzuhalten, als plötzlich der Sicherheitsmann wie eine Furie auf meinen Mann zuschoss und ihn aufforderte, unverzüglich die Kamera wieder einzupacken, was dieser mit Bedauern, aber ohne Widerspruch tat, denn eine Diskussion über rechtliche Sachverhalten in einer noch vergleichsweise fremden Sprache zu führen, machte nicht viel Sinn.
Das dritte Erlebnis dieser Art brachte bei meinem Mann das Fass schließlich zum Überlaufen: Wenige Tage zuvor hatte das JK Iguatemi, ein neues Luxus-Shopping, seine Tore geöffnet. Während mein Mann mit seiner inzwischen etwas größeren, aber dennoch sehr unauffälligen Kamera, die beste Foto-Position ausmachte, näherte sich ein Wachmann, mit bestimmtem Schritt, und erkundigte sich, ob wir eine “autorização” zur Erstellung von Bildmaterial besäßen. Nein, die hätten wir nicht, bedauerte ich, während mein Mann entrüstet erklärte, dass es ja wohl nicht sein könne, dass er hier nicht fotografieren dürfe, denn schließlich befände er sich auf öffentlichem Straßenland.
Als sich der Wachmann von der Argumentation meines Mannes unbeeindruckt zeigte, versuchte ich es mit dem „Touristen-Argument“. Wir seien aus Deutschland und fasziniert von der großartigen Architektur, die wir einfach festhalten wollten. In Deutschland sei es überhaupt kein Problem, von der Straße aus Fassaden abzulichten.
Während ich mich erklärte, hatte ich aus dem Augenwinkel wahrgenommen, dass sich zwei weitere Wachmänner in unsere Richtung bewegten, ganz offensichtlich, um dem Kollegen Hilfe zu leisten. Als dieser, ohne auf das Gesagte einzugehen, nochmals betonte, dass wir eine “autorização” benötigten, bedeutete ich meinem Mann, dass es wohl besser wäre, die Segel zu streichen.
Wie es denn sein könne, dass man in São Paulo auf öffentlichem Straßenland nicht fotografieren könne, erkundigte sich mein Mann am nächsten Tag aufgebracht bei Heloisa, unserer Sprachlehrerin. Im Arbeitszimmer konnte ich Bruchstücke der hitzigen Diskussion verfolgen, auf die sich Heloisa in meiner Unterrichtsstunde erneut bezog. Im Einzelnen sei sie über die Gesetzeslage nicht im Bilde. Doch sie könne sich vorstellen, dass das Fotografieren aus Sicherheitsgründen nicht gestattet sei, denn schließlich könnte die Fotosession dazu dienen, die Sicherheitsanlagen des Gebäudes im Bild festzuhalten. Wir entsprächen rein optisch sicher nicht dem klassischen Großkriminellen, warf ich ein, woraufhin sie zu bedenken gab, dass uns diese Tarnung vermutlich besonders verdächtig machen würde. Sicher sei der ein oder andere Kriminelle schon einmal auf die Idee gekommen, sich als Tourist ausgeben.
Wir fotografierten weiter – in unbedenklichen Gegenden – wobei wir auch in reinen Wohnstraßen immer wieder einmal kritische Blicke vom Sicherheitspersonal vor den Privathäusern oder den “guardas da rua”, den Straßenwächtern in ihren winzigen guaritas, den Wachhäuschen, von denen aus sie die Sicherheit der Straße im Visier haben, ernteten. Ob sich Letztere tatsächlich um die Sicherheit der Bewohner sorgten oder ob sie sich – angesichts unserer Motivauswahl vom interessanten Garagentor über den kunstvollen Briefkasten- eher die Frage stellten, ob wir im Vollbesitz unserer geistigen Kräfte stehen, lässt sich nicht final beantworten.
Am vergangenen Wochenende nun schlug mein Mann vor, zur Fotosafari in die Avenida Leonardo da Vinci aufzubrechen. Auf dem Weg zu einem Kunden sei ihm dort ein beeindruckendes „Haus“ aufgefallen, das er gern fotografieren wolle.
Das „Haus“ hatte ich mir anders vorgestellt, denn ich hatte ein verlassenes Gebäude, keinen imposanten Glaspalast mit beeindruckenden Skulpturen davor vor Augen. Als alte Berlinerin kam mir sofort der bekannte Sinnspruch in den Kopf: „Nachtigall, ick hör dir trapsen!“, was auf hochdeutsch so viel heißt wie „Ich ahne schlimmes!“.
Ich sah den Wachmann schon, bevor er auf der Bühne erschienen war. Sekunden später hatte er sich vor meinem Mann materialisiert, dessen Gesichtsausdruck Bände sprach. Genau so schnell wie er gekommen war, hatte sich der Wachmann wieder entfernt und mein Mann war auf den Bürgersteig zurückgekehrt, wohin ich ihm folgte. „Ich fasse es nicht“, sagte er ungehalten. Ich habe dem Mann erklärt, dass Brasilien ein freies Land ist und ich einfach nicht verstehen kann, dass man hier nirgends fotografieren kann. Es ist immer dasselbe!“, sagte er und bewegte in Richtung des angrenzenden Parks.
Ich entschied mich, dass Gespräch mit dem Wachmann zu suchen. Was das denn für ein imposantes Gebäude sei und wo ich ein “autorização” erwirken könne, erkundigte ich mich. Das Gebäude sei der Hauptsitz der Itaú, berichtet der Wachmann geduldig. Hier sei die Bank gegründet worden, nach Plänen des Bankgründers. Die Architektur des Gesamtkomplexes sei um einen einzigen Baum herum entworfen worden. Die Skulpturen stammten von namhaften Künstlern, eine sogar von Oscar Niemeyer, erklärte er nicht ohne Stolz und näherte sich der Balustrade, von der aus man den Park im Blick hatte, um zu sehen, was mein Mann dort treibt.
Dafür, dass man eine so bedeutende Bank, immerhin die achtgrößte der Welt, nicht einfach so fotografieren könnte, hätte ich vollstes Verständnis. Ich würde mit der “assessoria de imprensa”, der Pressestelle, Kontakt aufnehmen, um eine Genehmigung zu erwirken und berichtete ihm über das Procedere in Deutschland. „Lassen Sie mich mit meinem Supervisor sprechen. Vielleicht kann ich etwas für Sie tun“, sagte der sympathische Mann plötzlich und wandte sich per Walkie Talkie an Sr. Rogério, dem er die Lage schilderte. Sr. Rogério muss wohl einen großzügigen Tag gehabt haben, denn „unser“ wirklich freundlicher Wachmann teilte uns, nachdem ich meinen Mann aus der „Gefahrenzone“ geholt hatte, zufrieden mit, dass wir die Gebäude fotografieren könnten. Lediglich die Eingänge der Bank sollten wir bitte nicht aufnehmen.
Wir waren sprachlos und machten uns ans Werk, mit tollen Ergebnissen. Nach circa 15 Minuten verabschiedeten wir uns glücklich und dankbar bei dem Ausnahme-Wachmann, der so viel über seinen Arbeitsplatz zu berichten wusste.
Um für die Zukunft gerüstet zu sein, hieß es, die Rechtslage zu sondieren. Gilt in Brasilien, wie in Deutschland, die Panoramafreiheit oder auch Straßenbildfreiheit, die es jedermann erlaubt, urheberrechtlich geschützte Werke (z. B. Gebäude oder auch eine bleibende Installation), die von öffentlichen Verkehrswegen aus zu sehen sind, bildlich wiederzugeben, ohne dafür die sonst erforderliche Genehmigung einholen zu müssen, oder eben nicht?
Ja, sie gilt. Die “Legislação sobre Direitos Autorais – LEI Nº 9.610, DE 19 DE FEVEREIRO DE 1998”, (Art. 48 und 79) garantiert diese auch in Brasilien.
“Eu não preciso de autorização para fotografar meu país” – „Ich benötige keine Genehmigung um mein Land zu fotografieren“, stellt ein Autor, der offensichtlich ähnliche Erfahrungen wie wir gemacht hat, mit Hinweis auf das Gesetz energisch fest.

Freitag, 11. Januar 2013

“The German way”

Sechs Tage wollten wir der brütenden Hitze der Megacity entfliehen. 1.628 Meter über dem Meeresspiegel, in den Bergen der Serra da Mantiqueira gelegen, schien Campos do Jordão, die „Schweiz Brasiliens“, das perfekte Ziel zu sein – mit einer geradezu bestechenden Wettervorhersage: Keinen Tag würde das Thermometer zu dieser Zeit dort die 25-Grad-Marke übersteigen.
Während sich der klassische brasilianische Sommerurlauber – bei für den durchschnittlichen Mitteleuropäer kaum vorstellbaren Temperaturen – lieber an überfüllten Stränden tummelt, müssten wir damit rechnen, dass der Hotspot der brasilianischen Wintersaison vielleicht etwas einsam sein würde, gab Heloisa, die Sprachlehrerin, deren Familie dort ein Haus besitzt, zu bedenken. Noch nie habe sie den Jahreswechsel in Campos verbracht. Auch kenne sie niemanden, der je auf die Idee gekommen wäre, dies zu tun, führte sie aus.
Die höchstgelegene Gemeinde Brasiliens, nach deutschen Maßstäben mit knapp 50.000 Einwohnern eine Mittelstadt, schien tatsächlich wie gemacht für uns und steckte, wie sich herausstellen sollte, voller Überraschungen.
Ebenso unerwartet wie uns im Vale do Paraíba, dem Paraíbatal, die Liebe auf den ersten Blick in Form unseres „Zimmers mit Aussicht“ ereilt hatte, traten Valeria und Alexandre in unser Leben.
„Das Paar dort drüben scheint im nächsten Jahr auf die ganz große Liebe und Leidenschaft zu hoffen“, mutmaßte ich am Silvesterabend, während wir am “coquetel na noite do dia 31/12”, einem kleinen Empfang unserer Pousada, am frühen Silvester-Abend teilnahmen. Beide trugen rote Oberteile, was nach meiner Recherche brasilianischer Silvesterbräuche eindeutig dafür zu sprechen schien, dass für sie die Liebe im Jahr 2013 an erster Stelle stehen sollte.
Wie uns Campos do Jordão gefalle und seit wann wir in São Paulo lebten, erkundigte sich Marcio, der Besitzer der Pousada. Campos sei großartig, antwortete ich. São Paulo gefalle uns auch, doch berge das Leben in einem anderen Land durchaus auch seine Tücken, erklärten wir einhellig. Woher wir denn stammten, erkundigte sich plötzlich die Frau in der roten Bluse, die Marcio als guter Gastgeber nach allen Regeln der Gastgeberkunst fast unmerklich in das Gespräch einbezogen hatte.
Kaum war die Frage nach der Herkunft beantwortet, strahlte die zierliche Frau, als habe sie gerade eine besonders gute Nachricht erhalten. Ihre Mutter sei Deutsche, erklärte sie daraufhin. Sie selbst sei in Rio geboren und gehöre somit zur ersten Generation, informierte sie uns weiter. Ihr Mann habe italienische Wurzeln.
Ein Wort gab das andere und innerhalb von Minuten entwickelte das Gespräch eine beeindruckende Dynamik. Erstaunlicher noch seine Offenheit, Klarheit und Verbindlichkeit, die wir hier bisweilen sehr vermissen. Sie hadere häufig mit ihren eigenen Landsleuten, erklärte die Frau in ihrem charmanten Carioca-Akzent, der speziellen Aussprache der Einwohner Rio de Janeiros.
Die Brasilianer seien beruflich wie privat wenig verlässlich und unverbindlich. Die “Amanhã”-Mentalität – was der Wortbedeutung nach morgen heißt, in der Tat aber auch nächste Woche, in einigen Monaten, kommendes Jahr oder niemals bedeuten könne – treibe auch ihn als Brasilianer, gerade im beruflichen Kontext, immer wieder einmal zur Verzweiflung, räumte der zurückhaltende Mann ein.
“The German way – the reliability and the commitment – is making life so much easier”, erklärte die Frau, die ich auf Anfang 40 schätzte, in großer Ernsthaftigkeit und ohne jede Schmeichelei, als die man ihre Worte hätte abtun können.
Ganz im Sinne dieser Verbindlichkeit luden beide uns ein, sie wenig später zum Feuerwerk in das Zentrum des kleinen Städtchens zu begleiten. Sie hätten dies vor vier Jahren schon einmal besucht und wären angetan gewesen. Keine 30 Minuten zuvor waren wir ins Gespräch gekommen und schon hatten wir eine Einladung für den Jahreswechsel erhalten.
„Das war wirklich ein erstaunliches Gespräch“, erklärte mein Mann auf dem Weg in unser Zimmer. „Allerdings steht mir nicht der Sinn danach, mich später in die Menschenmassen in Capivari zu stürzen“, führte er aus. „Mir geht es nicht anders. Ich denke, es wäre kein Drama, wenn wir die Einladung absagen“, merkte ich an. „Ich habe das Gefühl, dass es kein Gerede war, dass wir uns bald in São Paulo treffen sollen“, sagte ich überzeugt.
Eine Stunde später fanden wir uns am Treffpunkt ein und sagten die ausgesprochene Einladung tatsächlich ab. Menschenansammlungen um Mitternacht wollten wir in diesem Jahr eher vermeiden. „Kein Problem!“, sagten beide und einmal mehr war deutlich zu spüren, dass unsere Absage das Interesse an einer Weiterführung des Kontakts nicht minderte.
Ich übergab meine Visitenkarte und erklärte, dass wir uns gern nach unserer Rückkehr in São Paulo mit ihnen treffen würden. Zur Sicherheit fügte ich hinzu, dass wir dies wirklich so meinten – eben “in the German way”, was beide herzlich lachen ließ. Eine verbindliche Verabschiedung folgte und unsere Wege trennten sich.
Vielleicht 100 Kilometer vor der Megacity ertönte plötzlich das Kurzmitteilungssignal des Mobiltelefons. Sie sei Valeria, die wir in der Pousada da Pedra in Campos do Jordão kennen gelernt hätten, schrieb unsere Silvesterbegegnung, von der wir bis zu diesem Zeitpunkt nicht einmal den Namen kannten. In meinem E-Mail-Postfach, schrieb sie weiter, würde ich eine Nachricht vorfinden.
Gespannt öffnete ich diese nach unserer Rückkehr. Aus Spannung wurde Rührung, denn nicht nur, dass einige der Passagen in deutscher Sprache abgefasst waren. Auch enthielt die E-Mail die vollständigen Kontaktdaten von Valeria und Alexandre. Besonders herzergreifend war der letzte Absatz: “Please do feel absolutely free to contact us anytime about anything. We’ll be very glad to join you or assist you in whatever it is, that you need. Please do count on us (the German way)”.
Wir fühlten uns frei, Valeria und Alexandre zu kontaktieren, trafen uns schon wenige Tage nach unserer Rückkehr zum Lunch und verbrachten fünf Stunden miteinander, die sich wie 30 Minuten anfühlten. Seit dem gehen sehr persönliche E-Mails und Kurzmitteilungen hin und her, in denen das nächste Treffen bereits vereinbart wurde.

Samstag, 5. Januar 2013

“A Room with a View” oder auch “Love at first sight”

Ganz unerwartet, am Ende eines Feldwegs, traf sie uns: Die Liebe auf den ersten Blick. An einer kleinen Ausbuchtung an der Estrada p/ O Pico do Itapeva, der Straße zum Gipfel von Itapeva, im Gemeindebezirk Pindamonhangaba, unweit von Campos do Jordão, hatten wir angehalten, um Fotos zu machen.
Ich war vorausgegangen und genoss die atemberaubende Aussicht, als ich hörte, dass ein Auto neben unserem angehalten hatte. Es sei gefährlich, hier unmittelbar an der Straße zu parken, erklärte der Autofahrer meinem Mann, der gerade seine Fotoausrüstung packte. Besser sei es, den Weg weiter hineinzufahren und das Auto dort abzustellen, erklärte der Fahrer, der schließlich selbst den Schotterweg hinunterfuhr – scheinbar ins Nirgendwo.
„Klar, es macht Sinn das Auto an einer völlig uneinsichtigen Stelle zu parken. So kann jeder Autodieb ganz in Ruhe arbeiten“, erklärte mein Mann amüsiert, nachdem er unseren Wagen, dem Rat des Fremden folgend, umgeparkt hatte.
Das Auto war schnell vergessen, denn das, was vor uns lag, raubte uns den Atem: Etwas unterhalb des Gipfels des fünfthöchsten Berges Brasiliens, der auf 2.030 Meter liegt, konnten wir das Vale do Paraíba, das Paraíbatal, vollständig überblicken, fast so, als könnte man von dort das andere Ende der Welt sehen. Wir stiegen über moosige Felsen, bis wir einen entfernten Hügel entdeckten, auf den ein Weg zu führen schien. Keine Frage, dort wollten wir hin.
Wir wechselten auf den Schotterweg, der sich durch die Landschaft schlängelte, und zu unserer großen Freude bergab ging. Noch immer steckte uns die Tour vom Vortag, über die an anderer Stelle zu berichten sein wird, in den Knochen.
Heiß war es auch an diesem Tag, sehr heiß sogar. Da half nur der Beduinen-Look. Ich zog mir die leichte, bunt geblümte Bluse, die ich über meinem T-Shirt trug, aus und wand sie mir kunstvoll um den Kopf. Mein extravaganter Look würde so oder so keine Irritationen auslösen, denn weit und breit war kein Mensch zu sehen.
Wir genossen die Weite, die Stille, bis wir nach einiger Zeit an eine Weggabelung kamen. Einige hundert Meter weiter unten erblickten wir ein Haus. Lachen hallte von dort durch das Tal. Zu diesem Anwesen war unser Park-Ratgeber also gefahren.
Wir wählten den zweiten Weg. Unterschiedliche Braun- und Rottöne bildeten den Untergrund. Jeder deutsche Gärtner wäre begeistert gewesen, denn gesäumt war dieser malerische Weg vom schönsten Steingarten, den ich je gesehen habe.
Wir stiegen höher und höher auf diesem leicht kurvigen Weg, der plötzlich von meterhohen Nadelbäumen eingerahmt war. Vor unseren Augen materialisierte sich, einer Fata Morgana gleich, ein Gebäude mit zwei Türmchen – an jeder Seite eines – das idyllisch auf der Bergspitze thronte.
Forsch ging mein Mann auf das aus dem Nichts aufgetauchte, längliche Bauwerk, das aussah, als hätte es heftigem Granatenbeschuss getrotzt, zu, um die Lage zu sondieren. „Hier ist niemand“, erklärte er schließlich und stieg die enge Wendeltreppe hinauf, die eines der Türmchen mit Rechteckzinnen ausfüllte. Ich folgte ihm in das klitzekleine, verlassene Domizil, dessen einziges Zimmer vielleicht fünf Meter lang und zwei Meter tief war, blickte aus dem großen Panoramafester im Erdgeschoss, bevor ich ebenfalls die Wendeltreppe erklomm.
Nur der Horizont lag vor uns, kein einziges Gebäude war zu sehen von der Dachterrasse dieses Ein-Zimmer-Schlosses. „Das ist der Wahnsinn“, versuchte ich die „Liebe auf den ersten Blick“ in Worte zu fassen. “A room with a view”, assoziierte meinem Mann. „Für Dich müssten wir die Mauern hier oben etwas höher ziehen“, erklärte er, meine Höhenangst im Blick. Ansonsten sollte sich das Gebäude schnell und leicht bewohnbar machen, schließlich ist es solide, aus Stahlbetonbau, gebaut“, führte er aus.
Schon waren wir mitten in der Planung. Ein Abzug für den Ofen war vorhanden, der befand sich wenige Meter von uns entfernt. Während seiner ersten Inspektion hatte mein Mann eine „russische Toilette“ und den Anschluss für ein Waschbecken gesehen. Handyempfang müsste ich haben, erklärte er, denn hinter uns konnten wir einige hohe Antennenmasten sehen. „Unten müssten wir also eine Toilette, ein Waschbecken und einen Ofen einbauen. Wir müssten Fenster einsetzen, die Einschusslöcher schließen, die Wände verputzen, einen Holzfußboden verlegen, ein Bett, einen Tisch und Stühle kaufen. Hier oben, auf der Dachterrasse, können wir wetterfeste Lounge-Möbel aufstellen“, komplettierte er.
„Ich denke, wir sollten das Haus lieber überdachen lassen, denn im Winter ist es in der Region eiskalt. In diesem Zeitraum bewegen sich die Temperaturen hier um den Gefrierpunkt und darunter“, setzte ich meinen Mann ins Bild. „Wenn solche baulichen Veränderungen möglich wären, hätte ein Investor die bereits vornehmen lassen“, erwiderte mein Mann. „Dann stünde hier längst ein Luxusressort“, sinnierte er. Okay, dann eben ohne weiteres Dach, dachte ich bei mir.
Voller Tatendrang machten wir uns auf den Rückweg, denn die Strom- und Wasserzufuhr war noch zu klären. Strommasten, so berichtete mein Mann, seien ihm auf dem Hinweg aufgefallen. Und tatsächlich: An der Weggabelung, die zum Haus unseres Park-Ratgebers führte, fand sich ein Strommast. „15 KVA (Kilovoltampere) bezeichnen die Leistung, die durch die Leitung fließt“, erklärte mein Mann. ET 49066, so mutmaßte ich, lässt sicher Rückschlüsse auf den Standort zu. Darüber sollte man bei der Stadtverwaltung weiterkommen.
Wenn der Hinweg hinunter führt, geht es auf dem Rückweg bergauf. Ein Gesetz, das ich schmerzlich spürte. Doch der Gedanke an “A room with a view” machte es leichter. Schließlich war auch der Aspekt der Wasserversorgung noch zu klären. Kaum hatten wir das Thema, das uns von der Beschwerlichkeit des Weges abzulenken vermochte, angeschnitten, hörten wir das Rauschen eines kleinen Flusses, der unterhalb des Weges entlang floss.
Wenn jetzt noch das Auto unbeschadet an Ort und Stelle stünde, wäre dies der perfekte 1. Januar 2013, dachte ich bei mir. „Was meinst Du? Werden wir die Reste der Karosserie vorfinden oder ist es ganz gar verschwunden“, fragte mein Mann auf den letzten Metern, während ich das völlig unbeschädigte Auto bereits in der Sonne blitzen sah.
P.S.: “A room with a view” ist keine 14 Kilometer von Zentrum von Capivari (Ortsteil von Campos do Jordão) entfernt. Der Weg zum Pico do Itapeva ist von dort ausgeschildert (über die Av. Senador Roberto Simonsen und die Estrada p/ O Pico do Itapeva). Einige hundert Meter nach dem kleinen See (in Fahrtrichtung auf der linken Seite) und noch vor den Antennenmasten mit Satellitenschüsseln (circa drei Kilometer vor dem Gipfel) geht eine Parkbucht ab. Hier sollte man dem Schotterweg bis zur Weggabelung folgen. Dort angekommen führt der Weg zur Linken zum „Fenster mit Aussicht“.