Dienstag, 28. Februar 2012

So groß wie 6.000 Fußballfelder und doch ein Geheimtipp: Die Serra da Cantareira

Der Parque do Ibirapuera, der als São Paulos Antwort auf den New Yorker Central Park gilt, ist wohl der bekannteste Park der Megacity. Kulturbeflissenen, Skatern, Radfahrern, Joggern und Spaziergängern wird in dem 1954 eröffneten Park, in dessen Gestaltung der berühmte Architekt Oscar Niemeyer und der Landschaftsarchitekt Roberto Burle Marx eingebunden waren, einiges geboten. Frühaufsteher sollte man allerdings sein, denn in den Nachmittagsstunden, insbesondere am Sonntag, bevölkern Heerscharen das innerstädtische Grün.
Als grünes Paradies gilt der Park der Fundação Maria Luisa e Oscar Americano (Av. Morumbi, 4077), der sich tatsächlich höchst idyllisch präsentiert. In den Abmessungen eher übersichtlich, lädt er allerdings weniger zum Wandern, als denn zum Schlendern in subtropischem Ambiente und zum kurzen Verweilen ein, vielleicht zum Nachmittagstee im berühmten Tea Room.
Auch der in unmittelbarer Nähe gelegene Parque Burle Marx (Av. Dona Helena Pereira de Morais, 200), benannt nach Roberto Burle Marx, der als Vater tropischer Landschaftsarchitektur gilt, hat durchaus Charme, aber, ebenso wie der Park der Fundação, wenig Fläche.
Etwas weitläufiger ist der Parque da Independência in Ipiranga, der durch seine Versailles nachempfundene Parkanlage, sein im Stile der Renaissance zu Ehren Dom Pedros I, der 1822 Brasiliens Unabhängigkeit erklärt hatte, erbautes Schloss besticht. Die perfekte Location für Flanieren und Fitness.
Ganz anders die Serra da Cantareira, die sich über eine Fläche von 7.916 Hektar erstreckt und damit in etwa so groß ist wie 6.000 Fußballfelder. Knapp über zehn Kilometer von der Innenstadt entfernt, liegt diese Oase, die allerdings weit weniger bekannt ist, als die genannten Grünanlagen. Weitläufig, wunderschön, am Rande der Megacity und doch ein Geheimtipp. Für Newcomer schwer nachvollziehbar.
Nur zufällig bin ich auf ihre Existenz gestoßen, denn neben einem Panoramaflug und einer Nachttour bietet das Helikopterunternehmen, bei dem wir unseren Rundflug über die Megacity gebucht hatten, einen Ausflug in ein Resort, das in den Ausläufern der Serra da Cantareira liegt. Mehr als eine Randnotiz wird der Serra dort allerdings nicht gewidmet. Mehr auch nicht auf den Internetseiten der Stadt oder in einschlägigen Publikationen.
Während sich insbesondere zu Carnaval all überall Menschenmassen tummelten, war die Serra, die wir am Wochenende zum zweiten Mal besuchten, nahezu menschenleer. Nur eine Handvoll Paulista und einige eiserne Japaner hatten sich für einen Spaziergang an diesem besonderen Ort entschieden.
Nachdem uns unsere erste, 9,6 Kilometer lange Tour auf die 1.010 Meter hohe Pedra Grande, den großen Stein, geführt hatte, von dem wir einen atemberaubenden Panoramablick auf die Stadt genossen hatten, wählten wir dieses Mal den Trilha da Bica, einen 1,5 Kilometer langen Rundweg mitten durch die Mata Atlântica, den atlantischen Regenwald . Wildromanisch, zauberhaft – mit einer Art Wasserhahn, einem “Bica“, an dem man sich auf halber Strecke erfrischen kann.
Wir wollten mehr wissen. Ich erkundigte mich bei einem der Parkwächter, der mir ein kleines Informationsblatt überreichte: Der Parque Estadual Cantareira, so war zu lesen, verfügt über vier Núcleos, Bereiche, mit jeweils ganz unterschiedlichen Facetten. Allein in „unserem“ Núcleo, dem Núcleo Petra Grande, der 1989 als erster Bereich der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde, gibt es außerdem den Trilha das Figueiras, den Feigenpfad, der sich über 1,2 Kilometer erstreckt, einen kleinen See und viel mehr nahezu unberührte Natur zu entdecken.
Ich forschte an anderer Stelle weiter: Die Serra da Cantareira gilt als größter Stadtwald der Welt, noch vor dem Nationalpark Tijuca in Rio de Janeiro, der mit 3.972 Hektar aber nur etwa halb so groß ist.
Den Namen “Cantareira” erhielt der Gebirgszug von den Tropeiros, den Anführern von Maultier- und Eseltransporten, die die Region auf ihrem Weg nach Minas Gerais im 16. und 17. Jahrhundert passierten. Zu dieser Zeit wurde Wasser in Krügen, “Cantaros“, gespeichert, die in eigens dafür eingerichteten Regalen, sogenannten “Cantareiras“ aufbewahrt wurden.
Heute schützt der Parque Estadual Cantareira, der 1993 in den sogenannten Cinturão Verde de São Paulos, den „Grünen Gürtel“ einbezogen wurde, und als Teil dessen zum UNESCO-Biosphärenreservat gehört, die zahlreichen Quellen, Wasserläufe und Reservoirs (Cabuçu, Engordador und Barrocada), die die Trinkwasserversorgung des Nordens São Paulos sicherstellen.
Zu entdecken bleiben der Núcleo das Águas Claras, der Núcleo Engordador, im dem eine historische Pumpstation, die “Casa da Bomba“, die von deutschen Ingenieuren im 19. Jahrhundert konstruiert wurde, besichtigt werden kann und der Núcleo Cabuçu, der erst kürzlich zugänglich gemacht wurde.

Wie Despachantes das Leben einfach machen und wie Mormonen die Zeit nutzen

Kürzlich waren wir zum zweiten Mal bei der Polícia Federal, der Bundespolizei, dieses Mal, um unsere Permanência, die Daueraufenthaltsgenehmigung, in unsere Pässe gestempelt zu bekommen. Gleichzeitig musste unsere Cédula de Identidade de Estrangeiro, eine Art Personalausweis für Ausländer, der die sogenannte RNE (Registro Nacional de Estrangeiros), eine mehrstellige Registrierungsnummer, enthält, neu beantragt werden, denn in unserem aktuelle Dokument war noch die Classificação Temporario eingedruckt.
Bereits gegen 7.30 Uhr schlängelten sich um die 200 Wartende um das Gebäude im Bezirk Lapa, im Osten der Megacity. Vor uns vielleicht 40 junge Amerikaner, die durch ihr uniformes Outfit mit schwarzem Namensschild und ihre fast militärischen Frisuren auf den ersten Blick als Mormonen zu erkennen waren.
Als die Behörde um Schlag 8.00 Uhr ihre Türen öffnete, forderte ein mit schusssicherer Weste ausgestatteter Wachmann diejenigen, die sich in einer brasilianischen Passangelegenheit eingefunden hatten, dazu auf, vorzutreten, woraufhin sich die Schlange allerdings nur unmerklich lichtete.
Die jungen Missionare, die in der Regel zwischen ihrem 19. und 30. Lebensjahr ausgesandt werden, um ihren Glauben in die Welt zu tragen, bildeten kleine Grüppchen, während die übrigen Wartenden der Reihe nach die Metalldetektoren durchquerten und sich am Empfang auswiesen. Ein engagierter Mann, der sich optisch lediglich durch die fehlende Krawatte von seinen Schützlingen abhob, nahm die Angelegenheit für die Mormonen, in Deutschland als Sekte klassifiziert, in die Hand.
Uns erwarteten Sr. Diogens und Sr. Denys, zwei Mitarbeiter von EMDOC, einem Dienstleister, der darauf spezialisiert ist, nicht-brasilianische Mitarbeiter von multinationalen oder in Brasilien ansässigen Unternehmen in bürokratischen Angelegenheiten zu unterstützen. Im Vorfeld hatten wir eine E-Mail mit allen wesentlichen Informationen zum bevorstehenden Behördentermin erhalten. Auch die beiden Senhores, die uns zur Seite stehen würden, wurden uns in Wort und Bild vorgestellt. Für alle Fälle erhielten wir auch die Telefonnummern der Herren, unsere Despachantes.
Insgesamt 170 Mitarbeiter zählt EMDOC, unser Beratungsunternehmen mit eigener Rechtsabteilung, das Gros davon Despachantes, die damit beauftragt sind, für ihre Klienten Lösungen im Behördendschungel zu erzielen, denn “despachar“ bedeutet so viel wie „lösen, klären, regeln“.
Der Berufsstand des Despachante ist in Brasilien, einem Land, das sich durch eine überbordende Bürokratie, die international in Teilen als desorganisiert beschrieben wird, weit verbreitet. Die professionellen Behördengänger kennen die Beamtinnen und Beamten vor Ort, wissen, worauf es bei den jeweiligen Anträgen ankommt, wie sie dem Klienten Zeit sparen und dessen Nerven schonen können.
Kaum hatten wir die aktuellen Formulare unterzeichnet, wurden wir gebeten, Platz zu nehmen. Nur wenigen Minuten später wurde mein Mann, der Hauptvisums-Inhaber, von Sr. Diogens in den Eingangsbereich des „Kundenzentrums“ geführt, um unseren Antrag persönlich abzugeben. Dieser eigentliche Verwaltungsakt war unkompliziert und nahm nur wenigen Minuten in Anspruch. Wir mögen uns nun ein wenig gedulden, erklärte unser charmanter Despachante, bis wir aufgerufen würden, unsere Fingerabdrücke abzugeben. Auf eine längere Wartezeit waren wir gefasst, denn in der vorbereiteten E-Mail war der Termin auf vier bis fünf Stunden anberaumt gewesen.
Während wir der Dinge harrten, die da kommen würden, konnten wir beobachten, wie ein Mormone nach dem anderen durch den Prozess geschleust wurde. Die Wartezeit vertrieben sich die jungen Männer selbst in der Behörde damit, das Buch Mormon an den Mann und an die Frau zu bringen. Eine kleine Gruppe scharte sich um eine ältere Asiatin, die nach einer Weile tatsächlich ein Exemplar annahm und die Stimmung der gut gelaunten Missionare weiter hob.
Die jungen Männer saßen links und rechts von uns. Wir waren geradezu eingekeilt, und ich rechnete jeden Moment damit, von einem von ihnen angesprochen zu werden. Als der Sitz neben mir frei wurde, nahm ein älterer Mann aus Venezuela Platz. Elder Sanchez, ein südamerikanischer Mormone, der mich länger beobachtet hatte, verlegte seinen Fokus nun auf den Venezolaner, der, dessen gewahr, unruhig auf seinem Platz hin- und her rutschte. Schnell ergriff Elder Sanchez seine Chance und sprach meinen Sitznachbarn an. Minuten später war der ältere Mann aufgestanden, der es wohl vorzog, unbehelligt – wenn auch stehend – weiter zu warten.
Immer mehr Menschen trafen ein. Und mit ihnen immer mehr Despachantes, die wie eine eigeschworene Gemeinschaft wirken. Sie kennen einander, unterstützen sich gegenseitig. Die weiblichen Repräsentanten der Zunft werden mit einem freundschaftlichen Kuss begrüßt, die Männer klopfen sich kumpelhaft auf die Schulter. Immer wieder tritt einer von ihnen an den ungefähr 1,50 Meter hohen Paravent, der den Service- vom Wartebereich abtrennt, um einem Mitarbeiter der Behörde, den Fall eines neuen Klienten zu präsentieren, was stets den Anschein erweckt, als stünden sich alte Freunde gegenüber.
Auch die Senhores Bruno und Ronaldo, die mich bei meinem ersten Besuch begleitet hatten, waren wieder vor Ort. Während wir einander kurz per Blickkontakt begrüßten, stellte uns Sr. Diogens seinen Kollegen Sr. Denys vor, der für uns an der Identificação, dem Bereich, in dem wir unsere Fingerabdrücke abgeben würden, wartete. Und schon war es soweit. Nachdem wir die abgegeben hatten, erfuhren wir von Sr. Denys, dass wir zeitnah gehen könnten. Die übrigen Prozesse würden Sr. Diogens und er für uns erledigen.
Drei Stunden nach Öffnung der Behörde saßen wir wieder im Auto, dank unserer höchst effizienten Despachantes.

Sonntag, 12. Februar 2012

Nach nur einem Jahr “Esther, Agora você é mais“

Annähernd 30.000 Deutsche zählte Brasilien laut verschiedener Quellen im Jahr 2010. Für den Bundesstaat São Paulo hatte die Polícia Federal, die Bundespolizei, zuletzt 2008 eine Schätzung durchgeführt. Die Behörde kam auf etwa 21.000 Deutsche. Aktuelle, verlässliche Zahlen liegen nicht vor, denn Brasilien verfügt nicht über ein einheitliches Meldewesen.
Am 28. Oktober 2010 traf mein Mann in São Paulo ein, mit gültiger Abmeldebescheinigung des Berliner Bezirks, in dem er zuletzt gelebt hatte. Vor genau einem Jahr, am 12. Februar 2011, landete ich nach 12 Stunden und 55 Minuten am Aeroporto Internacional de Guarulhos.
Eine Megacity, die sich vieler Superlative rühmt, galt es zu entdecken: 35 Jahre hatte ich in Berlin gelebt, der Metropole, die seit dem Jahr 2006 mit dem Slogan „Arm aber sexy“, den Bürgermeister Klaus Wowereit geprägt hatte, kokettiert.
Ganz anders São Paulo: Laut einer Studie des globalen Beratungsunternehmens Mercer fand sich die Megacity 2011 erstmals unter den Top 10 der teuersten Städte weltweit.  Da wundert es kaum, dass Presence Mystery Shopping, ein in Paris ansässiges Marktbeobachtungsunternehmen, das die bekanntesten Einkaufsstraßen weltweit nach harten Kriterien testet, die Rua Oscar Freire, die erste Shopping-Adresse der 11-Millionen-Stadt, im Januar 2012 auf Platz Nummer 5 einstufte.
Im Centro Comercial Aricanduva, das mit dem Claim “Gigante como São Paulo“ wirbt, zählt nicht Klasse, sondern Masse. Mit seinen über 500 Shops, drei Hypermärkten, 14 Kinos und 14.700 Parkplätzen gilt der Gigant als größtes Shopping Center Lateinamerikas.
São Paulo ist die größte italienische Stadt außerhalb Italiens. Gleiches gilt für die Zahl japanischer, spanischer, libanesischer und portugiesischer Einwanderer.
Entsprechend vielfältig ist das gastronomische Angebot. 52 unterschiedliche kulinarische Richtungen, geprägt durch ihre insgesamt 200.000 Einwanderer, bietet die Megacity, die über 12.500 Restaurants und 15.000 Bars verfügt.
In den 1.500 Pizzerien werden 1Million Pizzen pro Tag und 720 pro Minute gebacken. Wie viele Sushis in den 250 japanischen Restaurants, von denen behauptet wird, dass sie besser als die in Tokio seien, gerollt werden, ist nicht überliefert.
Beeindruckende Zahlen weisen auch die omnipräsenten Padarias, Bäckereien mit einem reichen Sortiment an Waren des täglichen Bedarfs, auf. So werden in den 3.200 Geschäften täglich über 10 Millionen Brötchen gebacken.
Die Megacity bäckt große Brötchen, in jeder Hinsicht, ganz anders als das beschauliche Berlin und verblüffender Weise auch in anderen Dimensionen als New York, der europäischsten Metropole des amerikanischen Kontinents. Gleichzeitig muten die Paulista sehr viel bescheidener als die großmäuligen Berliner und die selbstverliebten New Yorker an.
Die Megacity hat uns mit offenen Armen empfangen, hat uns ihren Reichtum, ihre Armut, ihre schönen und ihre hässlichen Seiten gezeigt. São Paulo ist unsere Stadt geworden. Ganz offiziell, denn am 27. Januar erreichten uns unglaubliche Neuigkeiten: Im “Diário Oficial da União No. 16, segunda-feira, 23 de janeiro 2012” war folgendes zu lesen: “DEFIRO o Pedito de Transformação de Visto Temporário item V em Permanente, com base em cargo diretivo. Processo No. xxx DIRK BEUTH e ESTHER KATHRIN BEUTH HEYER.”
Nie hätten wir gedacht, dass dem Antrag vom 4. Oktober 2011, unser temporäres Visum in ein permanentes umzuwandeln, so schnell entsprochen werden würde. Nun können wir unsere Permanência innerhalb der nächsten 90 Tage bei der Polícia Federal abholen, die für mich gleichzeitig die Arbeitserlaubnis bringt.
Bleibt die Beantragung der Carteira de Trabalho, einer Art Logbuch für die berufliche Tätigkeit, die sofort ausgehändigt wird. Meine RNE, den Ausländerausweis, und die CPF, eine Steuernummer, habe ich längst. Auch mein Lebenslauf ist bereits ins Portugiesische übersetzt.
In der kommenden Woche werde ich São Paulo als Wohnort in meinen deutschen Reisepass eintragen lassen. Und da es eben kein Meldewesen nach deutschem Vorbild gibt, muss ich an mich adressierte Post mit elektronisch gefertigtem Etikett vorlegen. Neben meiner Mobilfunkrechnung, die nur ungern als Beleg akzeptiert wird, habe ich glücklicherweise noch ein anderes Schriftstück zu bieten: die Bestätigung der Teilnahme am Kundenprogramm unseres Supermarkts, auf deren Vorderseite ein interessanter Satz zu lesen ist: “Esther, Agora você é mais“, was so viel bedeutete wie „Esther, jetzt bist Du mehr“. Was die Treue zu einem Supermarkt so alles zu bewirken vermag…

Freitag, 3. Februar 2012

Städtenamen im Trend oder wie sich Bielefelder São Paulo vorstellen

Mit seinem Barcelona Chair hat Ludwig Mies van der Rohe Design-Geschichte geschrieben. Experten bezeichnen das Sitzmöbel gar als „Meilenstein in der Geschichte des modernen Designs“.
Da der in Aachen geborene Architekt, der Mitte 1928 mit der künstlerischen Leitung der deutschen Abteilung Weltausstellung 1929 in Barcelona beauftragt worden war, davon überzeugt war, dass es keine Harmonie im Inneren eines Gebäude gäbe, wenn sich nicht das Design der Möbel und die Struktur des Bauwerks ergänzten, ergab es sich fast zwangsläufig, dass er das Mobiliar für seine Gebäude gleich mit entwarf.
So kreierte van der Rohe, dessen Geburtsname Maria Ludwig Michael Mies lautete, auch die Sitzmöbel für seinen weltberühmten Pavillon in Barcelona, die dem spanischen Königspaar als Sitzgelegenheit anlässlich der feierlichen Eröffnung dienen sollten, und benannte sie folgerichtig nach der Stadt, für die er sie geschaffen hatte.
Zu Klassikern entwickelten sich auch verschiedene Besteckmodelle der Württembergischen Metallwarenfabrik, kurz WMF. Die Besteckserien „Stockholm“ und „New York“, in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts vom langjährigen Atelierleiter Kurt Mayer entworfen, begleiten mich seit frühster Kindheit.
Im Unterschied zum Barcelona Chair fragt man sich allerdings, wie das in einer malerisch-ländlichen Region entworfene Essbesteck zu seinem Namen kommt. Das Geschichtsbüro Reder, Roeseling & Prüfer findet in der WMF-Geburtstagsveröffentlichung (150 Jahre Württembergische Metallwarenfabrik WMF (1853–2003), Geislingen/Steige) eine interessante Erklärung: „So entwickelte sich bereits in den 1950er Jahren in Deutschland ein neues Verhältnis zu Design und Gestaltung. In allen Bereichen – in der Architektur, in der Mode, im Kunsthandwerk und im Alltagsdesign wollten die Deutschen jetzt an die modernen Entwicklungen vor allem in den USA und Westeuropa anschließen und versuchten zugleich, ihren eigenen Stil zu entwickeln.“ Naheliegend also, den Produkten über weltweite Städtenamen Internationalität einzuhauchen.
Offenbar liegen Städtenamen für Produkte auch heute noch im Trend. Als ich kürzlich nach aktuellen Trends in und aus São Paulo recherchierte, kam ich aus dem Staunen nicht mehr heraus. Unmittelbar stieß ich darauf, dass Gardisette, „die Markengardine seit 1952“, mit dem Dekostoff SAO PAULO Urlaubsstimmung für zuhause anbietet.
Unter der Rubrik „Chic & Apart“ wird auf unnachahmliche Weise dafür geworben: „Exotisch, üppig, sinnlich – hier kann man sich bestens vom wilden Treiben im Großstadtdschungel erholen und dem Abenteuer Alltag entfliehen. Warum also in die Ferne schweifen?“ Allein diese Zeilen ließen mich herzhaft lachen. Was sich die Marketingstrategen aus dem ostwestfälischen Bielefeld wohl dabei gedacht haben? Warum auch die mühsame Flugreise auf sich nehmen, wenn sich gestresste Bielefelder, Frankfurter oder Münchner von ihrem ach so hektischen Alltag mit der in gedeckten Farben gehaltenen Gardine das exotische, üppige, sinnliche São Paulo ins Haus holen können.
„Die können nur Morro de São Paulo (Bahia) gemeint haben“, erklärte eine Freundin, als ich sie über die erstaunlichen Ergebnissen meiner Trendrecherche ins Bild setzte. Ich berichtete weiter, bis es auch ihr die Sprache verschlug. Selbst im Winter könne man ganz einfach südamerikanische Lebensfreude herbeizaubern. „Mit zehn Farbkombinationen lässt SAO PAULO keine Wünsche mehr offen“. Auch füge sich die internationale Gardine in jedes Einrichtungskonzept ein: „Mit seinem eingewebten, plastisch wirkenden Bananenblattmuster passt SAO PAULO besonders gut zu einem modernen Wohnstil. Super auch in Kombination mit dem modischen 50er-Jahre Retro-Look.“ Scheinbar ein „must-have“, denn von welchem Accessoire kann man schon behaupten, dass es wirklich überall hineinpasst.
Meine Neugierde war geweckt. Würde es weitere Produkte geben, die nach der Megacity benannt sind? Jean Cliclac ist der Schöpfer von „Sao Paulo“, das als Leinwandbild, Wandbild oder Fototapete angeboten wird, in einer Preisspanne von 29,70 bis 118,95 Euro. Der Bezug zu São Paulo erschließt sich nicht unmittelbar – mir zumindest nicht, denn abgebildet sind eine Ampel mit der in São Paulo unbekannten Fahrradfahrerampel und einem Durchfahrt-verboten-Schild, davor der Schattenriss eines spielenden Mädchens mit Hula-Hoop-Reifen und Fußball, dahinter ein schleichender Panther, eine fliegende Blume und ein ebenfalls fliegender Koffer. Wenn denn etwas eine São Paulo-Assoziation hervorrufen könnte, dann vielleicht der Betonhintergrund.
Etwas mehr Sinn macht die Serie „Sao Paulo“ des Hauses Eglo, eines international erfolgreichen Leuchtenherstellers aus Österreich, der damit eine „Reihe von hochwertigen Außenlampen“ bewirbt. Hier ließe sich zumindest annehmen, dass die Namensgeber den potentiellen Kunden das Gefühl geben möchten, dass eine Außenlampe, die in São Paulo Sicherheit herstellen kann, dies in Deutschland dreimal vermag.