Freitag, 31. August 2012

Sprachwunder mit heißen Kartoffeln im Mund

Noch fünf Stunden zuvor hatte ich nicht gewusst, dass ich um 18.00 Uhr an Gate 6 des Aeroporto de Congonhas sein würde, um nach Rio de Janeiro zu fliegen. Glücklich und voller Vorfreude auf ein verlängertes Wochenende an der Copacabana hatte ich gerade zwischen ernst dreinschauenden Geschäftsreisenden Platz genommen, als eine Gate-Änderung für meinen Flug durch den Lautsprecher dröhnte.
Wenige Meter nur trennten die Gates 6 und 4 und doch lagen Galaxien zwischen beiden Flugsteigen. Während an Gate 6 modische Tristesse und völlige Sprachlosigkeit geherrscht hatte, tauschten sich an Gate 4 stylische Geschäftsleute animiert über ihren Tag in São Paulo aus. Allenthalben waren die für die Bewohner Rio de Janeiros so typischen „sch“-Laute zu vernehmen.
Während ein Paulistano beispielsweise sein Wohlgefallen schriftlich wie mündlich schlicht mit den Worten “gosto mais” bekunden würde, sagt der Carioca gedehnt und eher getragen “goschto maisch”, für die Ohren meines Mannes ganz so, als habe der Sprechende eine heiße Kartoffel im Mund.
Sie ist mir vertraut, diese ganz eigene Sprachfärbung, durch den TV-Sender Rede Globo, dessen Hauptnachrichten und durch die “novela das nove”, die Telenovela um 21.00 Uhr, die mir zum Spracherwerb dienen. Ich lauschte dem regen Austausch der Fluggäste und ließ mich akustisch noch vor Reiseantritt an mein Ziel entführen.
Nicht nur ich schien mich auf die Stadt am Zuckerhut zu freuen. Als könnten sie es kaum erwarten, die Megacity endlich hinter sich zu lassen, durchwühlten mondäne Damen ihre Edelhandtaschen in Weekender-Größe nach Bordkarten und Reisedokumenten, als das Bodenpersonal gerade damit begonnen hatte, die Regeln zum Einstiegsprocedere bekanntzugeben.
In Rio de Janeiro angekommen, hieß es, keine Zeit zu verlieren, denn ich sollte meinen Mann zu einem Abendessen begleiten. Ich sprintete also, ganz nach den Anweisungen Sr. Rafaels, zum offiziellen Taxistand des Flughafens Santos Dumont.
Anscheinend hatte nicht nur ich den Rat erhalten, ausschließlich diese Taxis zu wählen. Gefühlte einhundert Meter lang war die Schlange, ganz zum Leidwesen meines Mannes, der mich telefonisch daran erinnerte, dass es sich um ein Abendessen mit (pünktlichen) Deutschen handele. Entsprechend dynamisch informierte ich den Taxifahrer über mein Ziel.
Offensichtlich hatte ich einen sprachlichen Punktsieg gelandet, denn sogleich begann der Taxifahrer ein Fachgespräch über die beste Route und den bevorstehenden Halbmarathon, was ihn glücklicherweise nicht davon abhielt, seine Rennfahrerqualitäten unter Beweis zu stellen. Ich hatte wirklich einen großartigen Taxifahrer erwischt und notierte mental, dass ich Sr. Rafael, meinen Taxifahrer in der Megacity, unbedingt berichten müsste, dass wirklich nicht alle Taxifahrer in Rio Halsabschneider seien.
Auch dass die Carioca brandgefährlich sind, kann ich nicht bestätigen. Ganz im Gegenteil. Noch im Kongresshotel meines Mannes kam ich zufällig mit einer Stadtführerin ins Gespräch, die, auf die Frage, ob sie meinem Mann und mir am kommenden Tag Santa Tereza und die Innenstadt zeigen könnte, bedauernd erklärte, dass sie bereits gebucht sei. Obwohl ihre aktuellen Kunden neben ihr auf ihre Tagesführung warteten, rief die engagierte Frau bei einer befreundeten Stadtführerin an, reichte den Hörer und wartete geduldig, bis alle Vereinbarungen getroffen waren.
An diesem ersten Tag würde ich die Strände von Copacabana und Ipanema entlang schlendern, denn statt des Häusermeers São Paulos lag nun der Atlantik vor der Haustür. Während ich verzückt in die Wellen blickte, sprach mich, zum ersten Mal an diesem Tag, einer der rund 60.000 vendedores ambulantes, Straßenhändler, Rio de Janeiros an, die an mobilen Ständen oder „aus der Hand“ Waren und Dienstleistungen aller Art anbieten.
Erst wollte ich das kleine zahnlose Männchen schnell mit einem schlichten “obrigada” (danke) abbügeln. Noch dazu, da mich das Produkt – bunte Basecaps, auffällig bestickt mit dem Ort, an dem ich mich befand – nicht im Ansatz interessierte. Neugierig schaute der engagierte vendedor das Buch an, das ich gerade gelesen hatte und versuchte, darüber ins Gespräch zu kommen. In welcher Sprache ich denn lesen würde, wollte er wissen. Und, um sicherzustellen, dass ich seine Frage verstanden hatte, formulierte er sie sogleich zusätzlich souverän auf Englisch. Das sei ein deutsches Buch, erklärte ich verblüfft über den mehrsprachigen Straßenhändler, dessen Frage völlig korrekt gestellt gewesen war. Während ich noch über dessen außergewöhnlichen Sprachkenntnisse sinnierte, entgegnete er mir auf Deutsch: „Wissen Sie, dass Beckenbauer ein guter Freund von Pelé ist?“ Das wusste ich, nicht aber, dass Straßenverkäufer in Rio echte Sprachwunder sind. Der Mann parlierte weiter in fehlerfreiem Deutsch, wollte wissen, wo ich lebe. Als ich mich als Bewohnerin der Megacity zu erkennen gab, verfinsterte sich sein Gesicht: „São Paulo ist eine kalte Stadt“, erklärte er fast philosophisch und verlor damit das Interesse unserem Gespräch. „Ich wünsche Ihnen eine schöne Zeit in Rio.“ sagte er und verabschiedete sich. Unglaublich!
Wenig später sollte ich den zweiten Vertreter der Zunft kennen lernen, einen sympathischen Mann, der Musikinstrumente zum Verkauf anbot. Auf diesem Instrumente könne jeder musizieren, erklärte er auf Portugiesisch und legte, wie das Sprachwunder, sogleich auf Englisch nach. Als ich auf Portugiesisch antwortete, dass ich heute noch lange unterwegs sein würde und dass Instrument nicht den ganzen Tag mit mir herumtragen wollte, sagte er lösungsorientiert, dass er morgen wieder hier sein werde und verabschiedete sich höflich.
Den Folgetag verbrachten wir mit unserer Stadtführerin, einer Paulistana, wie sich anhand ihrer Aussprache schnell feststellen ließ. Die Leichtigkeit der Carioca hatte die ernsthafte und etwas ängstlich wirkende Frau, die vor Jahrzehnten von der Megacity in die Stadt am Zuckerhut gezogen war, wohl aber nicht verinnerlicht, denn sie bat uns, unsere Eheringe abzulegen. Das sei sicherer, erklärte sie, und entführte uns in das bezaubernde Santa Tereza. Klug war sie und beredt. Doch sie blieb Paulistana und ließ uns, als wir uns vor der legendären Confeitaria Colombo, einer prächtigen Konditorei, verabschiedeten und erklärten, dass wir später problemlos wieder ins Hotel fänden, nur ungern allein.
Wir hingegen schwelgten nicht nur in den süßen Genüssen der Confeitaria, sondern genossen einen weiteren Tag in Rio de Janeiro, wo “País Tropical”, das tropische Land, der Welthit von Jorge Ben, eines der bekanntesten Vertreter der Música Popular Brasileira, wirklich erfahrbar wird.

Freitag, 24. August 2012

Express nach Rio

Ich war im Taxi unterwegs zu einem Termin, als plötzlich mein Telefon klingelte. „Fahr doch bitte, wenn Du fertig bist, zu meiner Assistentin“, sagte mein Mann durch einen Geräuschteppich von klapperndem Geschirr, klirrenden Gläsern und Stimmen in unterschiedlichster Tonlage. „Sie soll einen Flug für Dich buchen, am besten heute um 19.00 Uhr, meinen Rückflug auf Sonntag umbuchen, das Hotel verlängern und Dich dort als zweiten Gast melden“, führte er, gegen die Geräuschkulisse kämpfend, freudig aus. „Es ist so schön hier“, erklärte er. „Der… Fenster… großartig…“. „Ich verstehe Dich nicht mehr“, rief ich so laut ins Telefon, dass sich der Taxifahrer irritiert umschaute. Die Leitung knackte und brach ab. Nach dem Termin würde ich ihn erneut anrufen, spätestens, wenn ich im Büro wäre.
Dort angekommen, fragte ich Cristina, seine Assistentin, sogleich, ob er in der Zwischenzeit angerufen habe. „Nein, wir haben am Vormittag zuletzt telefoniert“, berichtete sie.
„Du wirst es kaum glauben. Er möchte, dass Du für mich einen Flug nach Rio buchst, noch heute“, erklärte ich und gab die Detailplanung weiter. „Wie schön, das wird sicher toll. Ich freue mich für Euch“, sagte Cristina begeistert, während sie die Buchungsunterlagen meines Mannes heraussuchte und die Internetseiten der Fluggesellschaft öffnete.
Gegen 15.00 Uhr verabschiedete ich mich und trat den Heimweg an, denn schließlich musste ich noch packen. Eilig begann ich, unterschiedliche Stapel anzuordnen. Während ich Shorts und Shirts für meinen Mann, der nur mit Business-Outfits gereist war, zusammenstellte, klingelte das Telefon. „Ich kann den 19.00-Uhr-Flug nicht buchen“, berichtete Cristina besorgt. „Es könnte sein, dass Du erst um 20.00 Uhr fliegen kannst“, erklärte sie. „Das ist kein Weltuntergang. Schau einfach, dass Du den frühestmöglichen Flug buchst. Ich bin ohnehin noch beim Packen“, erklärte ich kurz, widmete mich meiner eigenen Kleidungswahl und begann, den Weekender zu bestücken, wohl mit etwas zu viel Optimismus, denn nachdem ungefähr die Hälfte eingepackt war, war der voll. Also packte ich alles wieder aus und füllte unsere Wochenendoutfits eilig in eine größere Reisetasche um.
Kaum war ich fertig, rief mein Mann an, was dazu führte, dass ich einmal mehr umpacken musste, denn er hatte klare Vorstellungen, welche Kleidungsstücke ich für ihn einpacken sollte.
Während ich das Gepäck in den Flur trug, rief Cristina erneut an. „Du kannst Dir nicht vorstellen, wie kompliziert die Buchung war. Ich habe den Prozess tausendmal wiederholt. Als ich selbst den Flug um 20.00 Uhr nicht buchen konnte, habe ich das Reisebüro angerufen. Unsere Ansprechpartnerin hat mir dann erklärt, dass Endkunden nicht so kurzfristig buchen können. Nur Reisebüros habe noch unmittelbar vor Reiseantritt Zugriff“, erklärte sie atemlos. Aber jetzt sei das E-Ticket da. Sie habe es mir eben, um 16.53 Uhr, geschickt. Nun hieß es, schnell das Ticket auszudrucken, Kamera und Ladegerät, für meinen Mann die wichtigsten Reiseutensilien, in der Fototasche zu verstauen und hinunterzugehen, denn der Taxifahrer, den Cristina in der Zwischenzeit bestellt hatte, würde mich um 17.00 Uhr abholen.
Warum ich denn nicht selbst angerufen hätte, fragte Senhor Rafael, der Taxifahrer, dessen enttäuschte Mine sich erst wieder aufhellte, als ich ihm glaubhaft versicherte, dass ich jede Sekunde für die Vorbereitung meines Express-Abenteuers gebraucht hätte. Ob ich schon einmal in Rio gewesen sei, wollte er wissen. Eine knappe Woche nach meiner Ankunft in Brasilien sei ich mit meinem Mann, seinem Chef und dessen Ehefrau schon einmal dort gewesen, berichtete ich.
Wie ich denn die Carioca, die Bewohner Rio de Janeiros, fände, fragte er daraufhin scheinbar beiläufig. Vorsicht Falle, ging es mir durch den Kopf, denn über die Rivalität zwischen der Megacity und der einstigen Hauptstadt, hatte ich viel gelesen und gehört.
„São Paulo erinnert mich in vielerlei Hinsicht an das dynamische New York, Rio eher an die mondäne Westküste der Vereinigten Staaten. In der Megacity arbeiteten die Menschen sehr viel, in Rio hätte man den Eindruck, dass sich alles auf den Strand fokussiert.
Ein seliges Lächeln erfüllte das Gesicht des stolzen Paulistano. Unbestritten, die Landschaft sei schön, doch São Paulo habe so viel mehr zu bieten als die Stadt am Zuckerhut, erklärte er, als mein Mann anrief, um die Adresse des Hotels durchzugeben. „Die Avenida Nossa Senhora de Copacabana ist nicht weit vom Flughafen Santos Dumont entfernt“, erklärte er nach meinem Telefonat, das er aufmerksam verfolgt hatte, kundig. Doch ich müsse mich vorsehen vor den Taxifahrern in Rio. Das seien alles Halsabschneider. Ich müsste ganz entschieden auftreten, sonst würde ich über den Tisch gezogen. “Leve me para a Avenida Nossa Senhora de Copacabana”, sollte ich sagen, und genau darauf achten, ob der Taxameter angeschaltet sei, erklärte der Mann mit Beschützerinstinkt. Sollte dies nicht der Fall sein, müsste ich darauf bestehen: “Ligue o taxímetro”. Beide Sätze ließ mich der besorgte Paulistano mehrfach wiederholen, in Sorge, dass ich als Touristin entlarvt werden und skrupellosen Cariocas zum Opfer fallen könnte.
Am Aeroporto de Congonhas, dem innerstädtischen Flughafen der Megacity, angekommen, schloss mich Sr. Rafael fest in seine Arme. Ich solle gut auf mich aufpassen und wohlbehalten zurückkommen! Ob die Cariocas tatsächlich so brandgefährlich waren, bleibt zu berichten.

Freitag, 17. August 2012

Wie alles begann

„Komm, wir stellen uns an den Stehtisch dort drüben“, sagte ich zu meinem Mann, kurz nachdem wir das Foyer des Club Transatlântico betreten hatten.
In seiner Funktion als Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung sollte Dr. Peter Ramsauer als Gast der AHK (Câmara Brasil-Alemanha de São Paulo) dort über deutsches Know-how für künftige Infrastrukturprojekte in Brasilien sprechen.
Dieser Mittagsvortrag war, etwas über vier Wochen nach meiner Ankunft, unser erster gemeinsamer offizieller Termin in der Megacity und wir waren beide mehr als gespannt, was uns erwarten würde.
Mein Mann war über die AHK-Unternehmensmitgliedschaft eingeladen und ich hatte mich, nachdem ich die AHK etwa zehn Tage zuvor erstmals besucht hatte, um mich beruflich zu orientieren, über die Pressestelle der Kammer akkreditieren lassen.
Auf dem Stehtisch legte ich die Pressemappe ab und lies meinen Blick durch das Foyer streifen, das sich langsam füllt. „Kennst Du irgendjemanden?“, fragte ich meinen Mann, der ebenfalls die Anwesenden studierte. „Nein“, antwortete der. „Es könnte sein, dass unser Berater hier ist, doch bislang habe ich ihn noch nicht gesehen“, erklärte er weiter. Komisch, wirklich komisch, keinen Menschen zu kennen, dachte ich, denn in Berlin kannte ich immer irgendjemanden, ob unter den Gästen oder den Medienvertretern.
Plötzlich, wie im Sciencefiction-Film, materialisierte sich ein großgewachsener Mann vor uns, der meinem Mann freundschaftlich und ohne Vorwarnung die Schulter klopfte. „Neulinge! Das sehe ich sofort. Wer sind Sie denn?“, fragte der Hüne, der sich als Sönke Böge vorstellte, neugierig. Nach Sekunden der Sprachlosigkeit erklärten wir uns dem engagierten Netzwerker, der wenig später so unvermittelt entschwand, wie er erschienen war. „Was für eine Begegnung“, sinnierte ich, doch bevor wir uns darüber austauschen konnten, erspähte mein Mann den Berater seines Unternehmens, der sich unserem Stehtisch näherte. Ob wir bereits ein Apartment oder ein Haus gefunden hätten, wollte der charmante Berater wissen und was ich für Pläne hier in unserer neuen Heimat hätte.
Während wir parlierten, kehrte der Netzwerker plötzlich zurück. An seiner Seite ein zurückhaltender, sympathischer Mann. „Das ist Klaus Dormien“, erklärte der Netzwerker, „er ist Geschäftsführer der Brasil-Post, der deutschen Wochenzeitung hier. Für den müssen Sie schreiben“, sagte er energisch. „Klaus, das ist die Journalistin, die ich eben kennen gelernt habe“, erklärte er dem verdutzt dreinblickenden Zeitungsmann.
Während sich der Netzwerker dem Berater, den er erwartungsgemäß auch kannte, und meinem Mann zuwandte, zückte der Brasil-Post-Geschäftsführer seine Visitenkarte. „Herr Böge ist ein treuer Freund unserer Zeitung. Die Journalistin und der Zeitungsmann: Die musste er einfach zusammenbringen. Natürlich müssen nicht Sie für die Brasil-Post schreiben, auch wenn mich dies sehr freuen würde“, erklärte er mit beruhigendem Unterton.
Bevor wir das Thema vertiefen konnten, wurden die Türen des Veranstaltungssaals geöffnet. Während die Menschen hineinströmten, bot sich Klaus Dormien an, mich zu begleiten. Das träfe sich gut, denn ich sei akkreditiert und würde an einem Pressetisch sitzen. „Sie können sich auch zu ihrem Mann setzen“, erklärte der Routinier, „die Regeln sind hier nicht so streng“, führte er aus. Doch ich zog den Pressebereich vor, schon um das Gespräch zu vertiefen.
Es war ein gutes Gespräch gewesen, mit vielen Hintergrundinformationen zur deutschen Community in der Megacity, ja im ganzen Land, an das ich aufgrund der fieberhaften Suche nach einem Apartment erst Ende April anknüpfen konnte.
Wieder war eine Einladung eingetroffen. Noch nicht wirklich über die hiesigen Gepflogenheiten orientiert, entschloss ich mich, den Zeitungsmann zu kontaktieren, immerhin schien er exzellent im Bilde zu sein. „Ich hätte einige Fragen an einen ‚alten Hasen‘, der die Gepflogenheiten hier in São Paulo kennt“, schrieb ich und bat ihn, mich bei Gelegenheit, einmal anzurufen, was er wenig später auch tat. Einfach toll, dass er sich so viel Zeit genommen hat, um mir unsere neue Welt zu erklären, dachte ich nach dem Telefonat. Ohne seine nützlichen Hinweise wäre unser erster Fauxpas in der Megacity vorprogrammiert gewesen.
„Vielleicht kann ich wirklich einmal etwas für die Brasil-Post schreiben, nicht zuletzt, um mich erkenntlich zu zeigen“, warf ich in den Raum, als ich meinen Mann über das Telefonat und dessen Inhalte informierte. „Ich könnte die Berichte aus São Paulo, die ich ohnehin nach Deutschland schicke, etwas modifizieren und daraus eine Kolumne machen – São Paulo entdecken – Erlebnisse eine Newcomerin könnte sie heißen“, erläuterte ich. „Klingt gut, bis auf die “Newcomerin”, aber wenn Dir der Begriff gefällt“, entgegnete mein Mann.
Fünf Tage später schickte ich Klaus Dormien meine erste Kolumne, auf den Tag genau 12 Wochen nach meiner Ankunft in der Megacity, über meine Erfahrungen mit dem öffentlichen Nahverkehr.
Länger hörte ich nichts, bis am 19. Mai eine kurze Mail eintraf mit der gesetzten Zeitungsseite der Ausgabe, die am darauffolgenden Tag erscheinen würde.
Am 29. Juli erhielt ich meinen ersten Leserbrief. Nachdem ich in der Kolumne „Herr, lass es Geduld vom Himmel regnen“, auf die sich der Brief bezog, frustriert über die Unzuverlässigkeit von Handwerkern und Dienstleistern berichtet hatte, erhielt ich ein wahres Durchhalteschreiben in einer Zeit, in der ich dies sehr gut gebrauchen konnte, denn die Phase um den Einzug in unser Apartment war nicht ohne.
Ein zweiter Leserbrief traf im Oktober ein, ohne Bezug auf eine spezielle Kolumne, dafür mit einer schmeichelhaften Überschrift. „Wunderschön das alles, interessant, lustig, unterhaltsam“, schrieb eine Leserin, die feststellte, dass es „richtig interessant wird, wenn sich das Newcomer-Staunen gelegt hat“ und ich „mit der Entdeckungsreise fortfahre…weiter…tiefer…“. Recht hat sie, die Leserin, auch wenn ich schon das ein oder andere Mal um Themen ringe und mich frage, ob der Kolumnentitel nach mittlerweile 18 Monaten noch passt.
Sehr gefreut hat mich auch der erste Leserbrief eines männlichen Lesers, der im Juli 2012, als eine Ausgabe ohne die Kolumne erschienen war, deren Fehlen bemerkte.
P.S.: Danke, lieber Sönke Böge!

Freitag, 10. August 2012

Kochen (2): Aus dem Dornröschenschlaf erweckt

Wer sonntags den kulinarischen Konventionen der Paulistanos, die gegen 14.00 Uhr die Restaurants der Megacity stürmen, nicht folgt, sollte an diesem Tag keine allzu hohen Ansprüche an das Abendessen stellen. Burger, Pommes, Sandwiches oder andere schnelle Speisen – ob im Shopping, in Fastfood-Läden oder in der Padaria an der Ecke, die neben Brot und Waren des täglichen Gebrauchs auch reich- und vor allem fetthaltige Speisen anbietet – stehen zur Auswahl, denn das Angebot an Restaurants, die sonntagsabends ihre Türen öffnen, ist übersichtlich. Genauso wie die Anzahl der Gäste, die den frühen Abend im Restaurant zubringen. Wer will dort schon allein, beobachtet von fünf gelangweilten Kellnern, speisen.
„Nicht schon wieder Burger! Heute Abend koche ich“, erklärte mein Mann eines Sonntags entschlossen, nachdem wir entgegen der Gepflogenheiten mittags eben nicht gegessen hatten. Ich war begeistert, denn auch mir stand nicht der Sinn danach, vor allem, da sich unser ausgiebiger Fastfood-Konsum immer deutlicher auf der Waage manifestierte. Ein weiterer Pluspunkt: Unser Herd würde endlich aus seinem Dornröschenschlaf erweckt.
Im Supermarkt unseres Vertrauens betrachteten sodann Lebensmittel, die wir zuvor nie eines Blickes gewürdigt hatten. Zielstrebig steuerte mein Mann auf das Fischregal zu und prüfte das Sortiment. „Hier gibt es wirklich großartigen Fisch“, erklärte er begeistert und entschied sich für Saint Peter’s Fisch, der in Brasilien auch als Tilápia Saint Peter bekannt ist und zu den Buntbarschen zählt.
Sogleich wollte mein Mann zur Tat schreiten. Ich sollte mit der Vorbereitung des Salats beginnen. Wie ich das Dressing zubereiten könnte, würde er mir zeigen, bevor er mit dem Fisch anfinge. Kaum hatte ich allerdings das Messer in die Hand genommen, schritt der erfahrene Koch ein. „Du drückst ja! Das ist ein Messer, mit dessen Klinge man schneidet“, erklärte er erschüttert, woraufhin ich meine Technik modifizierte und mich wieder meinen Aufgaben zuwandte.
Ich war angetan von der Performance meines Mannes, der mich in Sachen Dressing routiniert instruierte, den Fisch würzte und briet, als hätte er nie etwas anderes getan, mit erstaunlichem Ergebnis: Der Fisch war perfekt – außen leicht kross und innen ganz zart. „Wir sollten immer kochen!“, sagte mein Mann schließlich, nicht ohne Stolz. Immer? So kurzweilig und genussvoll Kochen und Essen gewesen waren. Soweit würde es hoffentlich nicht kommen, dachte ich still, denn eine Küchenfee wollte und würde ich wohl nie werden.
Ende Januar luden wir, nachdem wir den Fisch mit verschiedensten Beilagen viele Male zubereitet hatten, erstmals einen externen Testesser ein. Nachdem auch der offensichtlich begeistert war, kam mein Mann auf die kühne Idee, einmal mehrere Gäste einzuladen. Dieses Vorhaben diskutierten wir fortan während unserer sonntäglichen Fischessen immer wieder, allerdings ohne Nägel mit Köpfen zu machen.
Anfang Mai wurde das Thema Essenseinladung konkreter. Wir waren von wahren Meisterköchen zu einem „lockeren Abendessen“ eingeladen. Locker war es gewesen. Doch es war weit mehr als nur ein Abendessen. Es war ein kulinarisches Erlebnis der Extraklasse! In absehbarer Zeit müssten wir eine Gegeneinladung aussprechen.
Ende Juli nahmen wir schließlich die Herausforderung an. Nachdem wir unterschiedliche Menüoptionen diskutiert und wieder verworfen hatten, waren wir zu einem Ergebnis gekommen. Wir wollten auf Bewährtes setzen. Ich sollte die Kartoffel-Möhren-Suppe alla Tereza zubereiten und mein Mann würde „seinen“ Fisch mit einer bunten Gemüsepfanne servieren. „Den Nachtisch“, erklärte mein Mann, „sollen wir lieber kaufen“, denn mit der Herstellung süßer Köstlichkeiten habe er keine Erfahrung.
Bevor ich mich der Suppe zuwandte, rief ich Tereza an, denn ohne schriftliches Rezept wollte ich nicht mit der Zubereitung beginnen. „Sollen wir unser Essen selbst mitbringen?“, fragte deren Mann, als er das Gespräch entgegennahm launig. „Nein, soweit ist es glücklicherweise noch nicht“, erklärte ich daraufhin zuversichtlich. Wenn mir Tereza einige Fragen beantworten würde, wäre mit einem genießbaren Abendessen zu rechnen.
In der Theorie hatte alles ganz leicht geklungen, doch die Realität stellte sich ganz anders dar. Auf halber Strecke war ich der Verzweiflung nahe, denn die vermeintlich einfache Suppe war einmal mehr misslungen. Diese geschmacksneutrale, gelbliche Flüssigkeit im Topf vor mir, erklärte ich meinen Mann, könnten wir unseren Gästen in keinem Fall anbieten. So schlimm sei es nicht, beruhigte der mich und versuchte, der warmen Vorspeise Leben einzuhauchen, bevor er mit den Vorbereitungen für die Gemüsepfanne begann.
Derweil tröstete ich mich damit, dass der Tisch großartig aussah und war zuversichtlich, dass immerhin Hauptgericht und Nachspeise punkten würden.
So fad „meine“ Suppe trotz des beherzten Eingreifens meines Mannes geblieben war, so feurig war „seine“ Gemüsepfanne, die allerdings durch die ausgefallenen Zutaten und die daraus resultierende farbliche Vielfalt überzeugte.
Dass Übung den Meister macht, zeigte der Fisch, denn der war auch an diesem Abend gelungen. Wie schön, denn der Nachtisch, eine imposante Torta de Limão, eine Zitronentorte, war schier unerträglich süß, süßer, als alles, was wir zuvor in Brasilien gegessen hatten. Und das will etwas heißen, denn im Land des Zuckerhuts wird viel und reichlich von diesem Rohstoff Gebrauch gemacht.
Was ich denn davon hielte, wenn ich an meinem Geburtstag unter Anleitung mein eigenes Geburtstagsmenü zubereiten würde, erkundigte sich die Meisterköchin, als sie sich telefonisch für die Essenseinladung und den schönen Abend bedankte. Wir würden einfache Gerichte auswählen, die ich zuhause jederzeit reproduzieren könnte, führte sie aus. Tereza, die ich an meinem Geburtstag sicher nicht missen möchte, sei selbstverständlich auch herzlich willkommen. Bei Interesse könnten wir uns auch regelmäßig zum Kochkurs treffen und so ein Repertoire an Gerichten einstudieren. Gesagt, getan: An meinem 45. Geburtstag kochte ich mein erstes vollständiges Menü – unter den strengen Augen der Meisterköchin, nahezu ohne Unterstützung. Und es gelang, mit Ausnahme der Suppe, die offensichtlich nicht mein Gericht zu sein scheint.
Zwei Tage später, an einem Sonntag, sollte mein Mann in den Genuss meines Hauptgerichts kommen. Die Frikadellen waren mir großartig gelungen. Nur das Purê de Mandioquinha, eine Art Kartoffelpüree, ging, trotz perfekter Konsistenz, geschmacklich völlig daneben, da ich nicht etwa Mandioquinha, sondern die zum Verwechseln ähnlichen weißen Süßkartoffeln gekauft hatte.

Freitag, 3. August 2012

Kochen (1): O paulistano gosta de comer fora de casa (Der Paulistano speist gern außer Haus)

São Paulo ist weltweit berühmt für seine kulinarische Vielfalt. Jeden Monat investieren die Paulistanos R$ 767 Millionen in Mahlzeiten außerhalb der eigenen vier Wände. Dies bedeutet, dass jeder Erwachsene im Durchschnitt R$ 91 pro Monat in den zahlreichen Restaurants der Megacity ausgibt.
Laut des Marktforschungsunternehmens Scope Geomarketing, das im Herbst 2011 im Rahmen einer repräsentativen Umfrage 1.618 Menschen befragt hat, geht fast jeder vierte Bewohner der Hauptstadt mindestens einmal pro Woche zum Mittagessen ins Restaurant. Die Zahl derjenigen, die jeden Tag im Restaurant speist, soll bei 1,7 Millionen Menschen beziehungsweise 20 Prozent der erwachsenen Bevölkerung der Stadt liegen.
Gut erinnere ich mich daran, dass ich mich in den ersten Tagen nach meiner Ankunft in der Megacity gefragt habe, was die zahllosen Businessleute mitten am Tag auf den Bürgersteigen der Straße, an der unser Hotel gelegen war, verloren hatten. Bis sich mir erschloss, dass sie zum Essen pilgerten, denn an jedem Wochentag um die Mittagszeit wiederholte sich das Schauspiel.
Bereits nach einigen Wochen reihten auch wir uns in die große Schar der mittäglichen Pilger ein. Ein wahrer Genuss, nachdem ich aus Deutschland, wie so viele, nur den Snack am PC oder das eilige „Essenfassen“ in der Kantine gewohnt war.
Als wir vor etwas über einem Jahr endlich unser Apartment bezogen, hieß es auch, die Küche auszustatten. In den einschlägigen Fachgeschäften hatte ich bereits eine Vorauswahl an Haushaltsgeräten getroffen, die ich meinem Mann kurz vor dem Einzug präsentierte. Von einem schönen großen Kühlschrank über eine Spülmaschine, eine Waschmaschine mit Trockner bis hin zu einem Gasherd mit vier Flammen und Backofen reichte das Spektrum.
Mein Mann war soweit angetan. Doch die Auswahl des Herdes erschütterte ihn. Was wir denn mit diesem kleinen Herd anfangen sollten, wollte er wissen. Ich war nie eine Köchin gewesen und meinem Empfinden nach würde das ausgewählte Stück seinen Zweck erfüllen. Was soll man schon mit einem Herd tun? Lebensmittel erwärmen. Wer es denn mag, kann sicher auch damit kochen oder backen, dachte ich bei mir, während mein Mann das Sortiment an Gasherden studierte.
Ein Strahlen erfüllte sein Gesicht, als er die technischen Angaben des monströsesten aller im Geschäft ausgestellten Herde prüfte. „Den nehmen wir“, erklärte er entschlossen. Ich betrachtete das Monstrum, das neben vier durchschnittlich großen Flammen über eine riesige zentrale Flamme, einen Backofen und einen separaten Grill verfügte, eher unschlüssig, woraufhin mein Mann engagiert erklärte, dass wir nur mit einem Herd dieser Größenordnung Gäste anständig bewirten könnten. Solange er nicht von mir erwarte, dass ich zur Meisterköchin avanciere, könnte er jeden Herd dieser Welt kaufen, erklärte ich launig.
Kurze Zeit später zierte das imposante Monstrum aus Chrom unsere Küche. Zugegeben, die Optik überzeugte mich und nicht nur mich. Meine Freundin Tereza war ganz begeistert von der Neuerwerbung. Wir sollten heute einmal kochen, erklärte sie. Was ich denn von Kartoffelsuppe hielte. Die sei ein hervorragender Einstieg in die Welt des Kochens. Meine Begeisterung hielt sich zwar in Grenzen, doch da selbst die Erledigung schnödester Alltagangelegenheiten mit Tereza stets kurzweilig gewesen war, ließ ich mich auf ihren Vorschlag ein.
Nachdem alle Zutaten eingekauft waren, machten wir uns ans Werk. Wenn es denn je eine mit dem Kochen verbundene Tätigkeit gegeben hatte, die ich mochte, dann war es die Vorbereitung der Lebensmittel. Mit Freude schälte ich Kartoffeln und Möhren. Während Tereza mit dem eigentlichen Prozess des Kochens beschäftigt war, notierte ich ihre Anweisungen. „Diese Suppe kannst Du ganz schnell und leicht einmal für Dirk vorbereiten“, erklärte sie schließlich, während wir die dampfende Delikatesse genossen. Grundsätzlich keine schlechte Idee. Eines Tages könnte ich dies sicherlich einmal tun.
Lieber gehe ich, wie die besagten 1,7 Millionen anderen Paulistanos, mittags zum Essen, denn das Rústico und das Mix, beides so genannte “restaurante de comida por quilo”, in denen die vielfältigen kulinarischen Köstlichkeiten nach Gewicht abgerechnet werden, bieten uns alles, was das Herz begehrt. Auch das Restaurante Uffizi, dessen Büffet mein Mann und ich in der Regel auf der schönen Sonnenterrasse genießen, besuchen wir häufig.
Einmal, an einem ganz besonders kalten Wintertag im vergangenen Jahr, als ich verbissen überlegte, wie mir wohl warm werden könnte, kam mir die Suppe wieder in den Sinn. Die könnte helfen. Vielleicht sollte ich es einfach wagen und versuchen, sie für mich und meinem Mann zum Abendessen zu kochen. Ich hatte nicht alle Zutaten und rief Tereza an, die mich ermutigte. Die wesentlichen Zutaten seien vorhanden, erklärte sie. Es könne also nichts schiefgehen. So dachte zumindest die vergleichsweise routinierte Köchin. Falsch gedacht! Die Suppe schmeckte nach nichts, nach wirklich gar nichts. Sollte unser Herd für ewig ein schönes Designobjekt bleiben?