Freitag, 9. Dezember 2011

Die ganz andere Weihnachtserfahrung

“Nesta quinta-feira, dia 27 de outubro de 2011, a cidade de São Paulo terá temperatura mínima de 15ºC e máxima de 27ºC. A probabilidade de chuva é de 5%. O sol nasce às 06h24 e se põe às 19h17. A previsão indica sol entre poucas nuvens.“
An diesem strahlenden Tag machte ich mich auf den Weg zur Ação Natalina 2011, der Weihnachtsaktion des Lar Social Girassol, eines großartigen Projekts für Kinder und Jugendliche. Während ich die Klimaanlage des Taxis genieße, erscheint mir ein Weihnachtsevent bei dieser Witterung ungefähr so naheliegend wie eine Bikinimodenschau bei Minusgraden.
Eine der Organisatorinnen dieses ersten Weihnachtsbasars der Saison hatte in ihren Garten geladen und präsentierte dort mit ihren Mitstreiterinnen allerlei Weihnachtliches. Das Highlight: Von den Kindern des Lar sorgfältig bemalte Holzweihnachtsbäume, weiß und grün, in drei Größen, mit goldenen Rändern, ausgesprochen geschmack- und sinnvoll, denn jedweder klassische Nadelbaum würde bei diesen Temperaturen keine drei Tage überleben. Ich erstand drei Weihnachtsbäume, die ich in die Weihnachtsdekoration, die wir aus Deutschland mitgebracht hatten, integrieren würde.
In den kommenden Wochen folgte ein Weihnachtsbasar auf den anderen. Die Escola Suíço-Brasileira de São Paulo, die Schweizerschule São Paulo, zog unmittelbar nach. Kurz darauf wurde zum Bazar Français eingeladen, der mit allerlei Kunsthandwerk und „spécialités bien françaises“ warb. Am ersten Advent veranstaltete die Igreja da Paz, die evangelisch-lutherische Friedenskirche ihren traditionsreichen Basar, gefolgt von der Sociedade Filarmónica Lyra und dem Colégio Humboldt, der deutschen Schule, und vielen anderen.
Die Weihnachtsbasare seien fest in die Terminkalender der deutschsprachigen Community integriert, erfuhr ich, ebenso wie das legendäre Weihnachtskonzert des Clube Transatlântico, das traditionell am zweiten Advent stattfindet. Spätestens zu diesem Zeitpunkt sollte sich Weihnachtsstimmung eingestellt haben.
Um diese zu verbreiten, treiben auch die Paulistanos allerlei Aufwand. Die Shoppingcenter sind üppig dekoriert und lassen Erinnerungen an die USA wachwerden, denn hier wie dort steht all überall Santa Claus mit seinen eifrigen Gehilfen zum Fototermin bereit.
In der vergangenen Woche standen nun Weihnachtseinkäufe auf dem Programm – bei 26 Grad und strahlendem Sonnenschein, in Begleitung meiner Freundin Tereza. Ich hatte relativ klare Vorstellungen davon, womit ich meine Lieben beschenken wollte. Unter anderem wollte ich einen schönen, großformatigen Kalender für die gesamte Familie

erstehen und zusätzlich einen für meine Schwester. Großformatige “Calendários” seien in Brasilien nicht gängig, erklärte Tereza. Die Brasilianer hätten ein anderes Verhältnis zu Terminen. In Buchhandlungen oder hochwertigen Papelerías würden vielleicht Kalender angeboten, dort sollten wir schauen. Ob es allerdings auch brasilianische oder nur importierte Kalender geben würde, vermochte Thereza nicht zu sagen. Eine Buchhandlung und zahlreiche Papelerías haben wir durchkämmt. Erfolglos.

Einige Tage später machte ich mich erneut auf, um das Sortiment weiterer ortsansässiger Buchhandlungen zu studieren. Wie nicht anders erwartet, war die Auswahl eher bescheiden. Die drei immer gleichen Kalender mit Brasilienmotiven und ein Kalender mit schönen Aufnahmen von Rio de Janeiro.
Leider auch keine Überraschung: Nur ein einziger klitzekleiner Tischkalender mit schlechten Fotos von São Paulo wird gehandelt. Que pena, wie schade, denn ich finde, dass diese großartige Stadt mit ihrer in Teilen höchst attraktiven Architektur und ihren zahlreichen Highlights hätte wahrlich einen verdient.
Als ich meinen vorwiegend deutschen Facebook-Freunden über meine Irritation, die Weihnachtseinkäufe bei annähernd 30 Grad auslösen, berichtete, erhielt ich interessante Antworten. Den ultimativen Tipp, wie sich auch bei höchsten Temperaturen Weihnachtsfreude einstellt, möchte ich nicht unerwähnt lassen. „Als wir 2006 zur Weihnachtszeit in Chiang Mai (Thailand) im Agape Home, einem Waisenhaus, waren und auch mehr als warme Temperaturen hatten, habe ich gemerkt, dass bei mir die Weihnachtstimmung durch Weihnachtsmusik hervorgerufen wird. Als ich „Stille Nacht“ hörte und die Atmosphäre des Waisenhauses auf mich einstürmte, war mir mehr als warm und weihnachtlich zumute. Unvergesslich schöne Momente für uns, zu sehen, wie wir durch die Übergabe von ein paar Spendeneuro Kinder erleben durften, die zu einer Weihnachtsfeier so viel Spaß, Freude und Rührung zeigten, wie ich dies bei Kindern in Deutschland noch nie gesehen habe. Eine Weihnachtsfeier in einem Waisenhaus ausrichten – wir würden es jederzeit wieder tun!“ Eine schöne Idee für die Zukunft.
In diesem Jahr geht es für uns ins kalte Deutschland, mit all dem, was Weihnachten für mich ausmacht – der Familie, einer Nordmanntanne mit echten Kerzen und dezentem Weihnachtsschmuck, der Mitternachtsmesse in der Bayreuther Schlosskirche, Lebkuchen von Leupoldt und Wildschweinbraten mit Klößen und Rotkohl.
P.S.: Bevor ich mich nach zehn Monaten in São Paulo auf den Weg zum Weihnachtsbesuch in Deutschland mache, möchte ich allen Leserinnen und Lesern der Brasil-Post von Herzen ein fröhliches Weihnachtsfest und ein gutes Jahr 2012 wünschen. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um mich ganz herzlich bei meinen Leserbriefschreiberinnen zu bedanken. Die liebevollen, ermutigenden Zeilen zum Thema Geduld von Ann Vierneisel und die engagierten Worte von Roswitha Schirmer haben mich berührt. Danke an Sie beide.

Dienstag, 6. Dezember 2011

Von New York lernen

200.000 Einwanderer leben in der Megacity São Paulo. Die Stadt zeichne sich, laut einer Publikation der Prefeitura, der Stadtverwaltung, durch mit die größte ethnische Vielfalt weltweit aus. In der Stadt habe sich die größte Population an Japanern, Spaniern, Portugiesen und Libanesen außerhalb des eigenen Heimatlandes angesiedelt.
Im Staat São Paulo seien es mit 700.000 Menschen insgesamt sieben Prozent der Gesamteinwanderer Brasiliens.
Dementsprechend bietet São Paulo eine ungeheure kulinarische Vielfalt. Es gibt kaum ein importiertes Produkt, möge es noch so exotisch sein, das hier nicht angeboten würde. Auch kulturell ist einiges geboten. Künstler aus aller Welt gastieren in der Stadt.
Wollen die „Neu-Paulistanos“ allerdings Grüße in die Heimat schicken oder ihre Lieben mit Geschenken, die einen inhaltlichen Bezug zu ihrer neuen Heimat oder gar ihrer Stadt aufweisen, bedenken, werden sie feststellen, dass dies deutlich schwieriger ist, als beispielsweise eine gluten- und laktosefreie, vegane Waldpilzsuppe von Schneekoppe oder eine Dose mit feinstem original indischem Curry zu erwerben.
São Paulo ist eine Stadt der Arbeit und eben keine subtropische Touristenmetropole: Hier werden zwölf Prozent des Bruttoinlandprodukts erwirtschaftet. Die Paulistanos, die Einwohner von São Paulo, gelten als “mais introvertido, mais fechado”, als sehr introvertiert und verschlossen. Es heißt “o trabalho é uma preocupação constante” – die Arbeit würde sie konstant beschäftigen.
Klassische Touristen gibt es wenige in dieser facettenreichen Megacity. Gerade einmal 21.043 internationale Touristen besuchten die Stadt von Januar bis September 2011. Im Vergleichszeitraum konnte Berlin 710.100 Touristen aus dem nicht-europäischen Ausland und 2.007.843 europäische Besucher begrüßen.
Dafür blüht in São Paulo der Geschäftstourismus: Die Stadt konzentriert 75 Prozent des brasilianischen Messemarktes und generiert daraus mehr als R$ 4 Billionen. São Paulo steht auf dem zwölften Rang der Messe-Destinationen weltweit. Alle sechs Minuten findet

hier eine Veranstaltung statt, eine Messe wird durchschnittlich alle drei Tage veranstaltet.

Dass die Stadt überdurchschnittlich viele Geschäftsleute anzieht, ist den Tourismusverantwortlichen bewusst. Eigens für diese Zielgruppe wurde ein Programm entwickelt, das unter dem Namen São Paulo Stay Another Day neun interessante Touren vorschlägt. “Easy, functional and delightful!“ sollen die sein, ist zu lesen.

Das wäre schön, denn insgesamt macht es die Stadt Neu-Paulistanos und Touristen nicht leicht, denn eine funktionierende touristische Infrastruktur sucht der Besucher vergeblich.

Stehen nun Einwanderer wie wir, Privat- oder Geschäftstouristen vor einer Reise oder der Rückkehr in ihr Ursprungsland werden sie sich schwer tun, die Erinnerungen durch Souvenirs zu lebendig zu halten oder den Daheimgebliebenen ein Geschenk zu machen, das sichtbar aus São Paulo stammt.
Das Pendant zum weltbekannten I (rotes Herz) NY wird man vergeblich suchen, denn die Megacity scheint sich ihrer selbst nicht bewusst zu sein oder gibt sich bescheiden. Es gibt ein paar wenige São Paulo-Shirts, doch man muss gezielt und lange nach ihnen suchen(Geschäfte: Arte Na Rua oder Trilha Mix).
New York ist ein gutes Stichwort, denn die internationale, ebenfalls von Einwanderern geprägte Metropole am Hudson River treibt die Paulistanos sehr um. Man spürt scheinbar eine innere Verbindung zu der Stadt, die immer noch mit dem Mythos “if I can make there, I’m gonna make it anywhere“ behaftet ist, denn die hart arbeitenden Paulistanos erhoffen sich anscheinend das gleiche von ihrer Stadt.
Nicht, dass ich es nicht nachvollziehen könnte, denn ich liebe New York: Diese wundervolle Metropole wird hier geradezu verherrlich. So findet man unzählige Reiseführer, Bildbände, Kalender in allen Formaten zu der Stadt, die, wie São Paulo,

niemals schläft.

Vergleichbare Artikel aus São Paulo gibt es allerdings fast nicht. „Über São Paulo haben wir nur ein paar Bildbände mit eher trostlosen schwarz-weiß-Fotografien“, erklärte Christian, der mich in der Livraria Cultura, einer großartigen Buchhandlung, bei meiner Suche nach Erinnerungsträchtigem beriet.
Auch Literatur zu finden, deren Handlung in São Paulo angesiedelt ist, stellt sich als

Herausforderung dar. Viele engagierte Buchhändlerinnen und Buchhändler haben
sich redlich gemüht. Insgesamt drei Titel habe ich nach langer Suche gefunden.
Immerhin. Ein Anfang!

São Paulo sollte in der Tat von New York lernen, denn keine Stadt in dieser Welt hat die eigene Marke so perfekt emotionalisiert, wie sie.  Die subtropische Megacity besitzt ein ungeheures Potential, ohne sich der damit verbundenen Möglichkeiten in der Gänze bewusst zu sein. Ganz nach dem Motto „Bescheidenheit ist eine Zier, doch besser lebt man ohne ihr“, gilt es, Bilder zu kreieren,

Greifbares zu schaffen. Das kommt an, wie die São Paulo-Gemälde einer Deutschen, die, so wurde mir berichtet, kaum so viel malen kann, wie sie verkaufen könnte.

Die 11-Millionen-Stadt sollte Einwanderer wie Touristen emotional „abholen“ und nicht mit dem Bus vom Flughafen ins Hotel, zum Veranstaltungsort und wieder zum Flughafen shuttlen, wie zur Formel 1 zahlreich zu beobachten war. Und dies am besten vor den anstehenden Großereignissen, der Fußballweltmeisterschaft und den Olympischen Spielen, denn eine so perfekte Gelegenheit wird sich so schnell nicht wieder bieten.

Samstag, 3. Dezember 2011

Verhaltensschulung bei Gefahrensituationen

4.320 registrierte Fälle von Mord und Totschlag, unglaubliche 506.654 Straßenraube und

68.582 Fälle von räuberischen Angriffen auf Kraftfahrer verzeichnete São Paulo im Jahr 2010.

Wurden in São Paulo statistisch 10,5 Morde pro 100.000 Einwohner verübt, lag die Zahl für Deutschland insgesamt „nur“ bei 2,7 Morden. Auffällig auch der Unterschied bei den Straßenrauben: Pro 100.000 Einwohner wurden in Deutschland 59 Fälle angezeigt. In der Megacity waren es 1.236 Fälle. In der Häufigkeit der räuberischen Angriffe auf Kraftfahrer liegt São Paulo mit 167 Fällen sogar vor Rio de Janeiro mit 125 Fällen. Die Zahlen aus Deutschland liegen bei verschwindend geringen 0,36 Fällen pro 100.000 Einwohner.
Um deutsche Staatsangehörigen, deren Partner und Kinder ab 14 Jahren zu sensibilisieren und auf ein „Worst Case Scenario“ vorzubereiten, führt das Bundeskriminalamt (BKA) im Auftrag des Auswärtigen Amtes seit 2008 Präventivmaßnahmen an den deutschen Auslandsvertretungen durch, Anfang Dezember auch in São Paulo.
Die Beratergruppe des BKA und der in São Paulo stationierte BKA-Verbindungsbeamte hatten zu einer Sicherheitsschulung in die Räumlichkeiten der AHK São Paulo eingeladen An die 100 Interessierte, darunter nicht nur Newcomer wie mein Mann und ich, sondern auch zahlreiche Mitglieder der so genannten „Global Player Initiative“, die im Jahr 2006

vom BKA ins Leben gerufen wurde, waren erschienen.

Aktuell sind 43 deutsche Unternehmen, darunter die meisten Dax-Konzerne, Teil dieser Initiative. Ob es um Schutz von Mitarbeitern und Anlagen, die Angst vor Entführungen

oder Investitionsentscheidungen geht – die Unternehmen, so ist zu erfahren, wünschten vor allem eine schnellere und umfangreichere Weitergabe von Informationen, sobald sich die Situation in einem Land oder gar für einzelne Konzerne gefährlich verschärft. Eine Art Frühwarnsystem also, in dem das BKA als zentrale Anlaufstelle für Informationen ausländischer Polizeibehörden unverzichtbar ist.

Doch auch Repräsentanten kleiner und mittelständischer Unternehmen, Ehefrauen und zwei Jugendliche sind vor Ort, jeweils mit den unterschiedlichsten Erfahrungshintergründen.
„Ich lebe seit 22 Jahren in der Stadt“, berichtete uns ein beruflicher Kontakt meines Mannes am Rande der Veranstaltung. „Einmal wurden meine Frau und ich bei der Ausfahrt aus unserem Condomínio, auf dem Weg in den Urlaub, überfallen“. Das Ehepaar reagierte vorbildlich, stieg aus dem Auto aus, überließ den Dieben das Fahrzeug und die persönlichen Wertgegenstände, ganz wie in der Sicherheitsschulung angeraten, und kam, obwohl Pistolen im Spiel waren, mit heiler Haut davon. Das mit einem Sicherheitssystem

ausgestattete Fahrzeug wurde wenig später komplett leer und reichlich lädiert in einer Favela geortet.

Dass Raubüberfälle dieser Art sogar vor Condomínios stattfinden, hat uns verblüfft. Diese bewachten Wohnanlagen, in denen viele Angehörige großer Unternehmen leben, ja häufig laut vertraglicher Regelung aus Sicherheitsgründen leben sollen, hatten wir bislang für risikofrei gehalten. In jedem Fall wurden wir in unsere Entscheidung gegen das wundervolle freistehende Haus, das wir anfangs gern bezogen hätten, bestätigt.
Von Raubüberfällen im Stau, insbesondere auf der Morumbi-Brücke, dagegen ist häufiger zu hören und zu lesen. Bereits im Vorfeld können Autoinsassen Maßnahmen treffen, die die Wahrscheinlichkeit, Ziel eines Überfalls zu werden, verringern können. Sind Laptops, schicke Aktenkoffer, prall gefüllte Handtaschen oder andere begehrliche Objekte jenseits des Sichtfelds sicher verstaut, gibt es zwar noch keine Garantie, aber den Versuch ist es wert. Sollte es den Autoinsassen dennoch treffen, sollte der sich wie unser Urlauber verhalten, sich seinem Schicksal fügen und die geforderten Wertgegenstände übergeben.
Entführungen, Geiselnahmen und Erpressungen, so hörten wir, seien ein großes Thema. Seit 1990 seien 211 Deutsche weltweit entführt worden. Die Fallzahlen seien in letzter Zeit erheblich gestiegen und die Experten rechneten mit einer weiteren Zunahme. Fünf Jahre und 100 Tage sei ein Deutscher im kolumbianischen Dschungel festgehalten worden. Dies sei der Spitzenwert, so berichtete einer der Beamten aus Deutschland.
Am häufigsten seien Express-Entführungen, in deren Rahmen der Täter das Opfer auffordert, mit ihm zu einem Bankautomaten zu fahren, die abgehobene Summe einfordert und den kurzfristig Entführten dann ziehen lässt.
Die gefährlichsten Momente jeder Form der Entführung seien die Bemächtigung und die Freilassung, unabhängig davon, ob man von den Entführern gezielt ausgewählt sei, ein Zufalls- oder ein Gelegenheitsopfer sei.
Wichtig sei es, ein gesundes Sicherheits- und Gefahrenbewußtsein zu entwickeln, Schwachstellen im eigenen Umfeld zu erkennen, seine jeweilige Umgebung gefahrenbewußt zu beobachten und ein sicherheitsgerechtes Verhalten an den Tag zu legen. Risiken könne man minimieren, indem man selbstsicher, aufmerksam und interessiert durch die Welt ginge.
So banal dies klingt. Ich denke, da ist etwas dran, denn ich muss nicht unbedingt mit edelstem Schmuck durch Downtown spazieren, mit dem iPad an einer geschäftigen Straßenkreuzung stehen oder auf dem Weg ins Restaurant nochmals schnell auf den aufgefalteten Stadtplan schauen.
Ich fahre Bus, bewege mich, mit oder ohne Begleitung, frei in dieser Stadt. Nur zwei Mal, ganz am Anfang,  habe ich mich im Ansatz unwohl oder unsicher gefühlt, denn die Großstädte, die mein Leben bislang geprägt haben, haben offenbar jenes Gefahrenbewußtsein trainiert und mir die notwendige Sicherheit beschert. Eine Portion Glück war sicher aber auch im Spiel.

Mittwoch, 23. November 2011

Almased oder der Kampf gegen die Folgen der Cozinha Brasileira

Seit gestern kämpfen wir! Mein Mann und ich haben den hinzugewonnenen Pfunden den Kampf angesagt, denn die exzellente Cozinha Brasileira hat uns im wahrsten Sinne des Wortes zugesetzt. Noch am Wochenende haben wir ohne Reue im Vento Haragano, der köstlichsten Churrasceria der Stadt, geschlemmt. Kleine fiese Pão de queijo, gehaltvolle Käsebrötchen, münzgroße frittierte Kügelchen aus Mandiok-Püree und Polenta, ebenfalls frittiert, bildeten den Auftakt zu einem kulinarischen Erlebnis, denn das Fleisch, das dem Churrasco seinen Namen gibt, ist einfach unvergleichlich. Zart, mürbe, saftig.

Diese Hochgenüsse sind in São Paulo an der Tagesordnung. Weltweit ist die Stadt für ihre exzellenten Restaurants bekannt. Ob in der “New York Times“, in der britischen Tageszeitung “The Guardian“ oder in der „Zeit“, die gar berichtet, dass Sao Paulo den Titel „Internationale Hauptstadt der Gastronomie“ trägt, wird die hervorragende Küche gerühmt.
All diesen unvergleichlichen, neuen Genüssen – von der Feijoada über Moqueca de camarão, einer Spezialität aus Bahia, bis hin zu Merengue de morango, einem luftigen Erdbeer-Sahne-Dessert – haben wir abgeschworen. Stattdessen oder gerade deshalb trinken wir Almased, ein gesund schmeckendes Pulver, das uns wieder rank und schlank machen soll.
Ganz unterwartet trat die vom Heilpraktiker Hubertus Trouillé an einem Küchentisch im niedersächsischen Bienenbüttel Anfang der 1980er Jahre entwickelte Mixtur aus hochwertigem Soja, probiotischem Joghurt und besonders enzymreichem Honig, die den Organismus mit allen essenziellen Aminosäuren aus pflanzlichem und tierischem Eiweiß versorgt, in unser Leben.
Ein ehemaliger Kollege meines Mannes, inzwischen bei Almased tätig, hatte sich angekündigt. Mit einer niedersächsischen Delegation wollte er den brasilianischen Markt ausloten, denn das Vitalpulver, das ursprünglich unter dem Namen Almasan ausschließlich über Ärzte und Heilpraktiker vertrieben wurde, trat, umbenannt in Almased und erhältlich in allen deutschen Apotheken, in den neunziger Jahren seinen Siegeszug an. Nach den großen Erfolgen in den USA, wo das Pulver inzwischen landesweit in mehr als 1.200 Health Food Stores verfügbar ist, sollen nun auch die Brasilianer gesund schlank werden.
Im Anschluss an ein ausgiebiges Frühstück im Grand Hyatt São Paulo, dessen kalorische Auswirkungen wir eigentlich nur mit zwei Tagen Almased wieder hätten loswerden können, machten wir uns mit Jörg, dem Botschafter in Sachen gesund abnehmen, auf den Weg zu den einschlägigen Drogarias, denn, wie in den USA, werden hier Drogeriewaren und Arzneimittel in einem Geschäft verkauft.
Wir prüften die in diesem Segment gehandelten Produkte, ließen uns Werbebroschüren

aushändigen und philosophierten über den Markt Brasilien. Damit wir uns ein genaues Bild machen könnten, wollte Jörg einige Almased-Dosen über den Ozean schicken. Nachdem die nun in der vergangenen Woche bei uns eingetroffen waren, zeigte sich mein Mann sehr entschlossen. Wir sollten am Montag mit Almased beginnen, um rechtzeitig zu unserem Deutschlandaufenthalt wieder in Form zu sein.

Wir haben es getan und nehmen nun seit Montagmorgen 8.00 Uhr drei Mal täglich Almased zu uns. Fünf Löffel des Vitalpulvers werden in 200 Milliliter Wasser eingerührt. Hinzu kommen zwei Teelöffel Sojaöl, das wir noch am Sonntag bei Natural da Terra erworben haben. Über den Tag sollte der Abnehmwillige mindestens zwei Liter Wasser

trinken, um den Effekt weiter zu verstärken. Eigentlich dürften wir zusätzlich so viel Gemüsebrühe trinken, wie wir wollen. Doch irgendwie haben wir die nicht in unseren Diätplan aufgenommen.

Wir haben uns, abgesehen von dieser kleinen Modifikation, für den zweiwöchigen Bikini-Notfall-Plan entschieden – und dies, wo das eiskalte Deutschland unser Ziel ist. Eine Woche drei Mal täglich Almased. In der zweiten Woche gibt es morgens und abends Almased. Mittags steht eine leichte Mahlzeit aus Gemüse und Salat, magerem Fleisch oder Fisch auf dem Speiseplan.
Zu unserem Schrecken mussten wir nun feststellen, dass unsere Ration des Diät-Lebensmittels nur bis Donnerstag kommender Woche reicht. Irgendein vergleichbares, ebenso gesundes und sättigendes Produkt würde es sicher geben, dachte ich mir, und machte mich an die Recherche. Doch nein, etwas Ähnliches gibt es in Brasilien nicht. Noch

nicht, denn sogleich haben wir in Niedersachsen eine Ration, die uns bis Weihnachten nährt, bestellt, und für Brasilien langfristig Bedarf angemeldet.

P.S.: Ab 1999 forcierte André Trouillé, Sohn des Firmengründers, die wissenschaftliche Forschung um Almased. „Forscher hatten herausgefunden, dass bestimmte Sojaqualitäten einer Reihe von Krankheiten entgegenwirken, etwa Diabetes, Wechseljahresbeschwerden, allen möglichen Entzündungen”. Inzwischen liegen Studien von vielen renommierten

Universitäten vor, die die positive Wirkung von Almased nicht nur auf die Entwicklung des Körpergewichts bestätigen. Almased beeinflusst alle Komponenten des metabolischen Syndroms positiv. Das metabolische Syndrom bezeichnet eine Kombination von Krankheiten: Übergewicht, Fettstoffwechselstörungen, Blutdruckprobleme und Insulinresistenz.

Donnerstag, 17. November 2011

“Veja“ und mehr: Unser Vorstoß in die brasilianische Medienwelt

„Wusstest Du, dass U2 in der Stadt war“, fragte mich mein Mann eines Abends. Drei Tage, am 09., 10. und 13. April, hatte diese großartige Band im Estádio do Morumbi gespielt und wir erfuhren dies kurz nach ihrem letzten Auftritt.
Wen wundert es, denn die einzigen Medien, die wir zu diesem Zeitpunkt nutzten, waren das gerade gestartete “Time Out São Paulo”, ein englischsprachiges Stadtmagazin, das ich aus New York kannte und sehr schätzte und „Deutsche Welle TV“, dessen Sendungen uns zwar über die neusten Entwicklungen in Deutschland informierten, nicht aber über unsere unmittelbare Umgebung.
Da “Time Out São Paulo” noch in den Kinderschuhen steckte und die Distribution eben

noch nicht wirklich funktionierte, war das monatlich erscheinende Magazin nie vor dem 20. eines Monats verfügbar, wenn es denn überhaupt an den Kiosken der Stadt gehandelt wurde.

Als hätte meine Sprachlehrerin unser Informationsdefizit erahnt, schlug sie eines Tages die Tageszeitung auf und ging mit mir die Konzertankündigungen durch. Ich erzählte ihr von “Time Out São Paulo”, berichtete über die Beschaffungsschwierigkeiten und pries den „Tip“, eines von zwei höchst informativen Berliner Stadtmagazinen.
Ein Magazin dieser Art, “Veja” genannt, gäbe es auch in Brasilien, erklärte sie, jeweils mit Regionalausgaben für Rio und São Paulo und überließ mir die Regionalausgabe vom 10. August, die mit “Cadeia para gringos” (Gefängnis für Gringos) titelte.
Kaum war die Stunde beendet, begann ich mit der Lektüre meiner ersten Ausgabe von “Veja São Paulo”, von den Paulista als “Vejinha”, kleines Veja, bezeichnet. 1.443 Häftlinge aus 89 Nationen, so las ich, sitzen derzeit im Gefängnis “Cabo PM Marcelo Pires da Silva“ in Itaí, knapp 300 Kilometer von São Paulo entferntein. Vom eigentlichen Aufmachertext verstand ich nicht viel. Hilfreich waren die Infokästen mit Fotos, die die Geschichten eines Bolivianers, zweier Afrikaner, eines Spaniers, eines Portugiesen, eines Franzosen und zweier Osteuropäer umrissen, allesamt durch Drogendelikte inhaftiert.
Weitere zwei Wochen gingen ins Land, bis ich unser erstes “Veja“, was „Schau her!“ bedeutet, kaufte. Aufregend war dieser erste Kauf, denn ich wollte sicherstellen, dass ich das Hauptmagazin und die Regionalausgabe São Paulo erhielt. Glücklich erschien ich mit

frischen Brötchen und den beiden Ausgaben schließlich am Frühstückstisch. Ein Ritual war geboren. Seither beginnen wir jeden Samstag mit “Veja“ und “Vejinha“ und studieren
die Politik, Wirtschaft und Kultur des Landes und der Stadt, in der wir leben- mal mehr und mal weniger erfolgreich, denn das führende Wochenmagazin, das aktuell in einer Auflage von 1,107,050 Exemplaren erscheint, ist nicht ohne Anspruch.

Vor zwei Wochen nun haben wir unser mediales Spektrum wieder erweitert, auf Anregung einer Deutschen, deren exzellentes, durch das brasilianische Fernsehen erworbene Portugiesisch uns während unseres Aufenthalts in Bahia beeindruckte und motiviert durch Norica, die deutschstämmige Ehefrau eines Kollegen meines Mannes, die mir

während eines Churrascos, eines Grillfestes, glaubhaft darlegte, dass das “Jornal Nacional“, die nationalen Abendnachrichten, und die anschließende Telenovela für den Spracherwerb äußerst hilfreich wären.

Von gelegentlichen Fußballspielen, die unseren Wortschatz um das Wort “falta“ (Foul) erweitert hatten und der von meiner Sprachlehrerin empfohlenen “Ana Maria Braga“-Show, einer Mischform aus den US-Formaten “Oprah Winfrey Show” und “The View“ oder deutschen Infotainment-Shows wie „Brisant“ oder „Hallo Deutschland“, die ich zwei Mal

allerdings nicht länger als die Hälfte der Sendezeit ertrug, war unser seltener Fernsehkonsum bislang auf den benannte deutschsprachigen Kanal und meinerseits
zusätzlich auf US-Krimiserien wie “Law & Order New York“ oder “Law & Order SVU“ beschränkt.

Am 31. Oktober saßen wir schließlich pünktlich um 20.30 Uhr vor dem Fernseher und

vertieften uns voll konzentriert in unser erstes “Jornal Nacional“, das uns aufgrund unsere noch eingeschränkten Sprachkenntnisse sehr forderte. Eine Schwierigkeitsstufe höher
war und ist “Fina Estampa”, die folgende Telenovela, die seit dem 22. August 2011 auf Sendung ist. Doch dieses TV-Erlebnis, das mit keinem deutschen oder US-amerikanischen TV-Format vergleichbar ist, hat eine eigene Kolumne verdient.

Donnerstag, 10. November 2011

In rasender Geschwindigkeit

Kaum ein Tag vergeht, an dem sich der Blick von unserem Balkon nicht verändert. Wir leben, so las ich kürzlich, in einer Region der Stadt, in der etwas geschieht. Die Zona Sul, die Südzone der Stadt, befindet sich, laut dem Wirtschaftsmagazin Exame, in der urbanen Transformation. Wo heute zahllose niedrige Gebäude stehen, sollen in absehbarer Zeit stylische Wohn- und Bürohochhäuser hochgezogen werden.
Längst ist die aus ein paar Häusern bestehende Favela am Fuße der Morumbi-Brücke, deren Überreste wir bei unserem ersten Spaziergang zum Morumbi Shopping, einem nahegelegenen Einkaufszentrum, noch passiert hatten, abgerissen. Um das Wahrzeichen der Stadt herum wird emsig gebaut. Sechs neue Häuser entstehen, in rasender Geschwindigkeit.
Während wir noch im Juni, zu unserem Einzug, einen gänzlich freien Blick auf die 1992 eröffnete, imposante Brücke hatten, beginnt das Skelett eines Hauses unsere phänomenale Aussicht einzuschränken.
Aktuell können wir von der Rua Pensilvânia, in der wir leben, geradeaus bis zum Shopping Morumbi, rechts bis zur Morumbi Brücke und der eindrucksvollen Skyline von Brooklin Novo und links bis zur Avenida Santo Amaro blicken, denn noch trotzen die charmanten

Einfamilienhäuser den ambitionierten Bauvorhaben. Zumindest in Teilen. Noch.

Doch nicht nur rund um die Morumbi-Brücke herrscht rege Bautätigkeit, auch an der Avenida Jornalista Roberto Marinho werden erste freie Flächen erschlossen. Alles beginnt mit einem kleinen Pavillon, der Kaufinteressenten in die Welt der neuen Immobilie entführt. Diese Illusionsräume sind wirklich beeindruckend. Von Grundrissen und Modellen über täuschend reale Animationen bis hin zu ausgestalteten Wohnbereichen wird vieles geboten.
Insbesondere an den Wochenenden herrscht dort Hochbetrieb. Fahnenschwenkende junge Frauen, die den Straßenrand des Pavillons säumen, laden zur Besichtigung ein. Zahllose vom Bauträger beauftragte Makler erörtern die Vorteile der Immobilie, wenn sie nicht gerade selbst vor der örtlichen Padaria, der Bäckerei, für das neue Bauvorhaben werben.
Geworben wird viel für ein neues Projekt: An Ampeln verteilen Männer und Frau jeden Alters Hochglanzprospekte und aufwändig gestaltete Magazine zum geplanten Neubau. An den Straßenecken stehen den ganzen Tag über Menschen mit Werbeschildern, meist in Form eines Pfeiles, der den Weg zur Traumimmobilie weist.
Insbesondere unmittelbar nach der Eröffnung eines neuen Pavillons geben sich die Interessenten bis spät in die Abendstunden die Klinke in die Hand. Wer möchte nicht in einer aufstrebenden Gegend leben und sich nicht den entscheidenden Kaufvorteil sichern, denn: Wer zuerst kommt, spart. Anders als in Deutschland wird mit dem Bau nämlich erst begonnen, wenn eine ausreichende Anzahl an Apartments verkauft ist. Hier arbeitet der Bauträger mit dem Geld der Endkunden und nicht mit den in Deutschland üblichen Krediten. Das kann wohl auch schon einmal schief gehen. So fährt ein Mitarbeiter meines Mannes regelmäßig zu „seiner“ Baustelle, um den Stand der Dinge vor Ort zu prüfen. Solange seine Traumwohnung noch nicht fertiggestellt ist, lebt der Dreißigjährige noch bei den Eltern – wie auch seine langjährige Verlobte, in der Hoffnung, dass sich die Risikofreude bezahlt macht und beide bald stolze Besitzer ihres eigenen Apartments sind.
Neigt sich der Sonntagabend über Brooklin, fahren scheinbar unvermittelt und aus im ersten Moment nicht nachvollziehbaren Gründen viele, meist neue weiße Kombis, in Deutschland als klassische VW-Busse der ersten Generation bekannt, durch die Straßen. In der Woche ist das Straßenbild geprägt von diesen Fahrzeugen mit großer Ladefläche, denn das deutsche Fabrikat ist äußerst beliebt bei Malereibetrieben, Gärtnern und vielen anderen Dienstleistern. Wenn dann am Sonntag gegen 18.00 Uhr auf einen Schlag zehn bis 20 oder mehr davon plötzlich durch die kleinen Wohnstraßen fahren, ist dies schon auffällig. Dieses Rätsel war nach einigen Abendspaziergängen gelöst, denn die Kombis nehmen die vielen Zettelverteiler und Schilderhalter, die Bicos, und ihre Werbemittel an Bord. Irgendwie logisch, denn diese ließen sich im Bus, dem Transportmittel, auf das diejenigen, die die geringfügig bezahlte Nebentätigkeit verrichten, angewiesen sind, schlecht transportieren.
Gerade wurde ein neuer Kran aufgestellt, ein neues Bauvorhaben begonnen. Bis die Einfamilienhäuser rund um die Rua Pensilvânia den angesagten Apartmenthäusern, die bei kleinerer Wohnungsgröße um die 200 Wohneinheiten umfassen können, gewichen sind, wird noch einige Zeit vergehen. Bis dahin bleibt der Ausblick frei und spannend.

Freitag, 4. November 2011

Wochenenden in und um die Megacity

An meinem ersten Wochenende in der Stadt war ich verblüfft: Alle Straßen zwischen der Rua Guararapes, der Avenida Engenheiro Luís Carlos Berrini und der Avenida das Nações Unidas waren menschenleer. Zugegeben, das Hotel befand sich in einem Business District, doch eine Megacity hatte ich mir anders vorgestellt.
Ich befragte Tereza, eine Paulista. Wenn jemand die Wochenend-Hotspots kennen würde, dann sie. “I hate Sundays”, begann sie ihre Ausführungen. Am Wochenende gäbe die Stadt nicht allzu viel her, erklärte sie. Sicher, es gäbe den Parque do Ibirapuera und einige weitere Orte, doch die meisten Paulista würden ihre Wochenenden außerhalb der Stadt, am Strand oder in den Bergen, verbringen.
Im April, zu Tiradentes, einem Feiertag zu Ehren des ersten Nationalhelden des Landes,

machten auch wir uns auf den Weg zum Strand. Gegen Mittag fuhren – oder besser – schlichen wir, wie tausende anderer Paulista, nach Guarujá. Über vier Stunden brauchten wir für die etwa 65 Kilometer, bis wir den kleinen überfüllten Küstenort unweit der Hafenstadt Santos erreicht hatten.

Etwas glücklicher, wenn auch nicht weniger aufregend verlief unser Wochenendausflug nach Paraty, von dem ich bereits berichtete.
Einen dritten Versuch unternahmen wir kürzlich. In „dem“ lokalen Reiseführer, dem “Fim de Semana“ (Wochenende) São Paulo 2011/2012 war mir Atibaia aufgefallen, eine Kleinstadt, deren Name aus der Tupi-Sprache stammt und „Fluss mit gesundem Wasser“ bedeutet. Wirklich verheißungsvoll und nur 67 Kilometer von São Paulo entfernt.
Ich war auf ein ökologisches Reservat gestoßen mit zwei Trilhas (Pfad, Wanderweg) von neun und elf Kilometern Länge. Wir würden dem Großstadtdschungel für einige Stunden den Rücken kehren und unberührte Natur genießen. Der Rucksack war schnell gepackt.
Die Landschaft um den auf 803 Höhenmetern gelegenen Ort sah vielversprechend aus. Nach einer knappen Stunde waren wir an der Portaria (Pforte) der Fazenda (Landgut), dem Ausgangspunkt unserer Tour, angelangt. Wie an einer Portaria üblich, wiesen wir uns aus und erklärten unser Anliegen. Wir könnten nicht auf das Gelände fahren, erläuterte der Porteiro (Pförtner) und verwies auf einen kleinen Weg, den wir daraufhin einschlugen.

Wie in der Gegend um Cunha („Der steinige Weg nach Paraty“) bedauerten wir, dass wir eine Limousine fahren. Doch wir ließen uns nicht beirren und suchten weiter nach der Fazenda, vorbei an einer Meute bedrohlicher, frei herumstreunender Hunde. Schnell erschloss sich uns, dass sich die Fazenda definitiv jenseits der Pforte, die wir nicht passieren durften, befinden muss.

Nach einer zweiten Charmeoffensive, die den Porteiro zwar beeindruckte, die Schranke aber nicht öffnete, versuchte ich, nahezu ohne Mobilfunknetz, die Nummer der Fazenda anzurufen. Ein schwieriges Unterfangen, denn die Leitung brach zusammen. Als ich kurz vor Atibaia endlich die Rezeption der Fazenda erreichte und unseren Fall radebrechend schilderte, erteilte meine Gesprächspartnerin unseren Pläne eine Absage, denn heute fände eine geschlossene Unternehmensveranstaltung statt. Unseren nächsten Besuch mögen wir doch telefonisch ankündigen. In der Tat, die Telefonnummer war sicher nicht ohne Grund angegeben. Unverrichteter Dinge fuhren wir zurück in die Megacity, deren Erholungsräumen wir am darauffolgenden Wochenende eine zweite Chance geben wollten.
Wir besuchten einmal mehr den Parque do Ibirapuera, dieses Mal am Vormittag, mit abertausenden Sportlern und „unsportliche Poser“, denn nach Einschätzung meines Mannes betrieb nur ein Drittel wirklich ernsthafte Leibesertüchtigung.
Der vielfach gepriesene Park der Fundação Maria Luisa e Oscar Americano (Av. Morumbi, 4077) würde uns die Erholung bieten, nach der wir suchten. Im berühmten Tea Room könnten wir einen Nachmittagstee in subtropischem Ambiente genießen. Nachdem wir den Eintrittspreis entrichtet hatten, erkundeten wir das Gelände, über das zahlreiche Helikopter kreisten, denn viele Einwohner des Stadtteils Morumbi, der für seine besonders hohe Helikopterdichte bekannt ist, befanden sich offensichtlich auf den Heimflug. Leiser war es auch im Tea Room, den wir am Ende unsere Runde, nach weniger als fünfzehn Minuten, erreicht hatten, nicht, denn kleine Paulista taten alles, um die Teestunde der erholungssuchenden Eltern zu untergraben.
Nachdem uns die Nähe keine wirkliche Erholung beschert hatte, wagten wir am Morgen des 2. November (Dia de Finados/Allerseelen) einen erneuten Ausflug an den Strand. Klüger geworden, verließen wir um kurz nach 8.00 Uhr die bedeckte, kühle, ausgestorben Megacity, in der Hoffnung, die Strecke nach Guarujá dieses Mal schneller zu bewältigen. Tatsächlich, in nur eineinhalb Stunden erreichten wir den Küstenort, der in Sonne getaucht war, entgegen der Prognose meines Mannes. Wir hatten alles richtig gemacht, zumindest fast alles. Mein Mann, der ein langärmliges Polo-Sweatshirt, kurzer Hose und Flipflops trug, entledigte sich seines Langarmshirts. Erst krempelte ich die Jeans hoch, dann trennte ich mich von meinem Mehrschichtenlook. Später erstand ich ein hübsches Strandkleid, das ich sogleich anzog.
Stundenlang spazierten wir genussvoll am Strand entlang, bis wir, zurück am Auto, realisierten, dass wir völlig verbrannt waren, denn Sonnenschutzlotion hatten wir nicht aufgetragen. Wir hatten sie an diesem kühlen Tag erst gar nicht eingepackt.
Mit einer bleibenden Erinnerung kehrten wir am Nachmittag zurück in die Megacity,

erholt und glücklich, wenn auch leider kreischend rot. Dank einer Empfehlung meiner Freundin Michaela, die mir das After Sun-Produkt Caladryl ans Herz legte, das laut ihrer Aussage jede Frau in Brasilien benutzt, hat sich meine Hautfarbe nahezu normalisierte. Mein Mann strahlt noch heute (Erholung aus). Eines Tages, da bin ich sicher, werden wir zu echten Routiniers in Sachen Nah- und Fernerholung.

Freitag, 28. Oktober 2011

„Tatort“

Sonntagabend 20.15 Uhr: Der Bildschirm färbt sich rot, blaue Augen blicken auf und sogleich starr geradeaus. Die kalten Augen verändern sich mehrfach, bis um die Iris des rechten Auges ein Fadenkreuz entsteht, aus dem sich der Schriftzug bildet. „Tatort“. 32 Sekunden, die seit dem Abend des 29. Novembers 1970 unverändert jede Woche TV-Geschichte schreiben.
Ich erinnere nicht, wann ich meinen ersten „Tatort“ gesehen habe. Es muss zwischen 1974 und 1980 gewesen sein, denn der elegante Kriminalkommissar Heinz Haferkamp(Hansjörg Felmy) ist mir im Gedächtnis geblieben. Auch an souveräne Kommissarin Hanne Wiegand (Karin Anselm), die von 1981 bis 1988 für den Südwestfunk (heute

Südwestrundfunk, SWR), ermittelte, kann ich mich erinnern.

Zur Legende geworden ist „Tatort“ mit den Kriminalhauptkommissaren Horst

Schimanski (Götz George) und Christian Thanner (Eberhard Feik), die zwischen
1981 und 1991 in Duisburg, mitten im Ruhrpott, dem Verbrechen auf der Spur
waren. Zwei Kinofilme („Zahn um Zahn“, 1985 und „Zabou“, 1987) und eine eigenständigen Krimi-Serie („Schimanski“ ab 1997), die den beliebten Ermittler mit ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn, unorthodoxen Methoden und Hang zum Milieu in den
Mittelpunkt stellte, folgten.

In über 40 Jahren „Tatort“ waren bislang insgesamt 102 Ermittler im Einsatz, in 815 Folgen. Die meisten Fälle haben die Hauptkommissare Batic und Leitmayr (Miro Nemec und Udo Wachtveitl) aufgeklärt; in 57 Einsätzen ermittelte das Team vom BR aus München. Den zweiten Platz belegt mit 51 Fällen die SWR-Hauptkommissarin Lena Odenthal (Ulrike Folkerts). Auf den dritten Platz kommen ihre Kollegen aus Köln, die

Hauptkommissare Max Ballauf und Freddy Schenk (Klaus J. Behrendt und Dietmar Bär) mit 47 Fällen.

„Wir schauen jeden Sonntag ‚Tatort‘, „auch hier in São Paulo“, berichtete Angelika Pohlmann, die Gründerin des „Lar Social Girassol“, als ich sie Ende September zum Frühstück traf, um mit ihr zu eruieren, wie ich sie in ihrer großartigen Arbeit für benachteiligte Kinder und Jugendliche unterstützen könnte. Davon berichtete ich meinem Mann, ebenfalls ein großer „Tatort“-Fan, der unmittelbar mit mir zu Fnac fuhr, um ein

HDMI-Kabel zu erstehen, das die volldigitale Übertragung von Audio- und Video-Daten vom Computer auf den Fernseher ermöglicht.

Am 25. September 2011 sahen wir schließlich unseren ersten „Tatort“ in São Paulo. Max Ballauf und Freddy Schenk, meine Lieblingsermittler aus Köln, klärten einen Sabotageakt mit tödlicher Folge auf. Was für ein Gefühl: Über 10.000 Kilometer von Deutschland entfernt, konnten wir die dienstälteste deutsche Krimireihe in guter Qualität genießen, ganz so als befänden wir uns noch in Berlin.
Nach Berlin führte uns vor einigen Tagen auch unser bislang letzter „Tatort“, den

wir traditionsgemäß am Sonntag um 20.15 Uhr sahen. Nicht nur die Kritik echauffierte sich über „Mauerpark“, der die interessanteste Metropole Deutschlands als eiskalte, deprimierende Stadt präsentierte. Noch dazu mit hanebüchener Handlung.

Auch wenn nicht jeder „Tatort“ gelungen ist, steht die TV-Legende nun wieder fest auf unserer Agenda, hier auf unserem neuen Kontinent. Und eben nicht nur auf unserer und der von Familie Pohlmann, denn wie ich heute erfuhr, sei „der ‚Tatort‘ ein fester Bestandteil des ‚Expat‘-Lebens“. In manchen Condomínios würde nahezu jeder „Tatort“ sehen. Viele würden gar aufzeichnen und versäumte Episoden untereinander austauschen.
Post Scriptum: In der ARD Mediatek steht die aktuelle Episode der Kult-Krimireihe

immer sonntags um 20.15 Uhr für eine Woche als Livestream zur Verfügung.
Aufgrund der Bestimmungen des Jugendschutzes (die Sendung ist für Jugendliche
unter 12 Jahren nicht geeignet) ist das Video jeweils allerdings nur von 20.00-06.00 Uhr verfügbar. Für ein störungsfreies TV-Vergnügen, empfiehlt sich, die „mittlere“ Qualität zu wählen.

Donnerstag, 20. Oktober 2011

Der Salão de Beleza, der Schönheitssalon – eine brasilianische Institution

In der Megacity São Paulo gibt es 10.128 Salões de Beleza. Allein von Januar bis Juli 2011 sind 2.445 Geschäfte hinzugekommen. Landesweit stieg die Zahl der Schönheitssalons laut einer Umfrage der Associação Nacional do Comércio de Artigos de Higiene Pessoal e Beleza (Anabel) in den vergangenen fünf Jahren gar um 78 Prozent von 309.000 im Jahr 2005 auf 550.000 im Jahr 2010.
Deutschland zählt gemäß den Statistiken des Zentralverbandes des deutschen Friseurhandwerks 77.126 Friseurbetriebe und, nach Angaben der Hamburger STATISTA GmbH, 17.082 Kosmetikstudios.
Statistisch gesehen kommen auf einen Salon in Brasilien 630 Kunden, also deutlich weniger als in Deutschland, mit 860 Kunden pro Geschäft. Auf die Bevölkerung gerechnet ist die Dichte an Unternehmen im Dienste der Schönheit in Brasilien so um ein Drittel höher. Nicht eingerechnet die unzähligen selbstständigen Schönheitsexpertinnen, die ihre Kundinnen und Kunden in deren Apartments und Häusern verschönern. Und trotzdem verblüfft die offizielle Zahl, denn gefühlt liegt die Zahl der Salões de Beleza noch viel höher, denn allein in unserem, ungefähr 400 Meter langen Karree befinden sich zwei ständig gut gefüllte Salons.
Der Salão de Beleza ist ein Phänomen: Er ist gleichzeitig Friseur und Nagelstudio, es wird an allen erdenklichen Körperstellen enthaart, mit verschiedensten Techniken massiert, gepflegt, geschminkt und sehr viel geplaudert. Heerscharen junger Frauen machen die

Kundinnen und Kunden schön, nach Vorlagen aus Zeitungen oder, wie kürzlich beobachtet, nach Fotos, die jugendliche Kundinnen auf dem iPad aufrufen. Freitags und samstags gehen die Lichter häufig erst gegen 22.00 Uhr oder später aus.

Aus deutscher Sicht ist das extensive Styling von Händen und Füßen besonders augenfällig, denn nahezu alle Brasilianerinnen und Brasilianer, ob alt, jung, reich oder arm in all den Regionen des Landes, die ich bereits besucht habe und in São Paulo ganz besonders, zeichnen sich durch perfekt gepflegt und in der Regel, anders als in Deutschland, vollflächig lackierte Finger- und Fußnägel aus. Auch die Männer, wobei deren Nägel nicht knallig bunt, sondern klar lackiert sind. Ja, auch Männer tragen Nagellack.
Als ich meinen Mann, der lackierte Nägel für sich kategorisch ausschließt und seine lieber zuhause poliert, kürzlich zum Friseur begleitete, saß dort ein Mann mittleren Alters im Kundenkittel, Hände und Füße von sich gestreckt, die von zwei jungen Frauen, eine an den Händen, eine an den Füßen, eifrig lackiert wurden. Mein Mann war ganz erschüttert darüber, dass sich sein Geschlechtsgenosse in aller Öffentlichkeit so präsentierte.
Vom ausgeprägten Nagelkult erfuhr ich bereits lange bevor ich nach Brasilien kam. Mein Mann berichtete mir nach seinen ersten Tagen in der Stadt bereits vom „ausgezeichneten Pflegezustand der Brasilianerinnen und Brasilianer“ und bezog sich dabei selbstverständlich auch auf die auffällig gepflegten Hände und Füße. Christiane, eine deutsche Freundin, die lange in São Paulo gelebt hatte und nun nach Deutschland zurückgekehrt ist, erklärte, auf die Frage, was ihr am meisten fehle, dass ihr ihre Empregada und natürlich auch der Salão de Beleza fehle.
Als ich im Februar hier eintraf und sich die ersten Kontakte zu deutschen Damen ergaben, konnte ich es mit eigenen Augen sehen: Jede einzelne von ihnen hatten perfekt gepflegte und vollflächig lackierte, lange Nägel. Insbesondere in den Hochzeiten des Umzugs, in denen meine Hände ganz grauenvoll aussahen, starrte ich ständig auf die eindrucksvollen Nägel.
Ich brauchte eine Weile, bis ich selbst damit begann, meine Nägel zu „brasilianisieren“, denn bislang bevorzugte ich kurz geschnittene, gepflegte und leicht polierte Nägel. Hat man erst einmal damit angefangen… Inzwischen lasse auch ich jede Woche meine Nägel pflegen und lackieren. Und ich muss sagen: Sie sehen schon toll aus, meine brasilianischen Nägel, vollflächig lackiert mit Colorama cremoso – Café Italiano.
Eher defensiv berichtete ich gestern Beate, einer sehr unkonventionellen Berliner Freundin, die selbst vor vielen Jahren in Brasilien ihr praktisches Jahr absolviert und hier mit ihrer Doktorarbeit begonnen hatte, davon, dass ich seit neuestem wöchentlich meine Nägel lackieren lasse. Ihre Reaktion hinterließ mich verblüfft, denn auch sie hatte dies während ihrer Zeit in Brasilien regelmäßig getan.
Cristina, meine brasilianische Ex-Kollegin und jetzige Assistentin meines Mannes, die bis September über zwanzig Jahre in Deutschland gelebt hatte, hat sich gar die brasilianische Lackiertechnik angeeignet, denn sie wollte in den zwei Jahrzehnten Deutschland nicht auf

perfekt brasilianisch gestylte Nägel verzichten.

Donnerstag, 13. Oktober 2011

Der steinige Weg nach Paraty

Lange schon wollten wir nach Paraty fahren, denn bislang gerieten alle Gesprächspartner, wenn das Thema auf die kleine Küstenstadt im Bundesstaat Rio de Janeiro kam, ins Schwärmen. Als ich schließlich Ende August zufällig im Berliner Tagesspiegel über dieses Kleinod kolonialer Baukunst las und meinem Mann davon berichtete, schlug der vor, Anfang Oktober mit seiner Schwester und deren Mann dorthin zu reisen. Nun, am vergangenen Samstag machten wir uns auf den Weg.
Im Vorfeld hatte ich zwei Zimmer in einer charmanten Pousada, die ich im Zuge meiner Recherchen entdeckt hatte, gebucht – telefonisch, auf Portugiesisch, ganz ohne Hilfe. Anschließend hatte ich die Buchung inklusive der telefonisch erhaltenen Konditionen schriftlich fixiert und um eine Bestätigung per E-Mail gebeten. Auch das Fremdenverkehrsbüro hatte ich kontaktiert, um Silvia Junghähnel, eine Deutsche, die Touren zur Fazenda da Boa Vista, dem Wohnort von Julia Mann, der Mutter des Schriftstellers Thomas Mann, anbietet, ausfindig zu machen.
Um die Route selbst hatte ich mich nicht gekümmert. Besser wäre es gewesen, denn einmal mehr hielt die Anreise an unseren Urlaubsort einige Überraschungen bereit: Als wir ins Auto stiegen, schlug ich vor, die Küstenstraße zu wählen, denn meine Freundin Tereza und Heloisa, unsere Sprachlehrerin, hatten begeistert von dieser malerischen Route berichtet. Doch mein Mann entschied sich, dem Navigationssystem zu folgen, nicht zuletzt, da ich keine Informationen zum Verlauf der Küstenstraße beizutragen hatte. Wir nahmen also die Rodovia Presidente Dutra, die Via Dutra (SP-60/BR-116), die Autobahn, die São Paulo und Rio de Janeiro verbindet.
Von Guaratinguetá wurden wir über die SP 171, eine asphaltierte Landstraße, geleitet. Eigentlich hätten wir bereits hier ahnen können, was vor uns liegt, denn unmittelbar zu Beginn dieser Straße waren im Abstand von wenigen Metern zwei Hinweisschilder angebracht, mit ganz unterschiedlichen Kilometerangaben zu unserem Zielort. Wir fuhren durch eine malerische Landschaft, immer höher in die Berge, bis an der Kuppe ein weiteres Schild mit einer beunruhigenden Information auftauchte: „fim da pavimentação” hieß es, Ende der befestigtigten Straße. Ein VW-Käfer mit offener Motorhaube stand unmittelbar daneben. Ich übersetzte das Schild, doch wir verinnerlichten die Aussage nicht wirklich.
Mein Mann fuhr an und das Auto, eine Limousine, glitt in den Nebel. Wir befanden uns, ohne dies zu wissen, inmitten der Mata Atlântica, des atlantischen Regenwalds, in der Serra da Bocaina (Bocaina: auf Tupi-Guarani „Wege in die Höhe“), mit dem 2.200 Meter hohen Berggipfel Pico do Tira Chapéu. Dass die Bäume dort bis zu 40 Meter hoch wachsen, erschloss sich uns sofort. Denn, wenn wir uns nicht gerade durch eine Wolke fortbewegten, konnten wir die atemberaubende Natur bestaunen. Wir bewegten uns fort, sehr zögerlich, über viele Kilometer, denn befahrbar war die Straße, die sowohl unser Navigationssystem als auch Google Maps als Route zwischen São Paulo und Paraty auswies, nur mit größten Mühen.
Wir wurden hin- und her gerüttelt, bewegten uns vorsichtig, langsamer als im Schritttempo, überlegten vor der Überquerung tiefer Krater stets, wie diese am besten zu umfahren wären. Dennoch setzen wir häufig auf.
Irgendwann begegneten uns erste Fahrzeuge, durchweg Geländewagen, deren Fahrer uns jeweils fassungslos anstarrten. Unsere Verzweiflung ließen wir uns nicht anmerken. Im Gegenteil, wir hoben stets, Optimismus ausstrahlend, unsere Daumen. Tudo bem, alles ist gut.
Plötzlich tauchten die ersten VW Käfer, in Brasilien unter dem Namen Fusca bekannt, auf, an die wir uns hängten, in der Hoffnung, so wertvolle Hinweise zur Umfahrung der Abgründe zu erhalten. Doch kaum kamen wir heran, brausten sie schon davon.
Als wir auf halber Strecke, auf einer Art Plateau, kurz anhielten, um etwas zu verschnaufen, drosselte schließlich eine der Renn-Ameisen ihr Tempo, mit dem Angebot, in dieser misslichen Lage hilfreich zu sein. Tudo bem, obrigada.
Noch waren wir voller Hoffnung, uns aus dieser selbstverschuldeten Misere aus eigener Kraft befreien zu können. Bis wir, in der Gegend um Cunha, auf eine zarte Brücke zusteuerten, auf deren anderer Seite ein massiver Felsbrocken drohte. Plötzlich ging alles ganz schnell. Mein Mann, dessen unerwartete Coolness mich zutiefst beeindruckte, fuhr einfach, scheinbar ohne zu überlegen, wagemutig auf das gigantische Felsmassiv zu und hatte es schon umrundet. Wenn wir dies lebendig überstanden hatten, würden wir auch den Rest des Weges bewältigen.
Nachdem wir einmal mehr von einem Fusca abgehängt wurden, staunten wir nicht schlecht, als dieser plötzlich wieder auftauchte, vor einer Art Kneipe am Wegesrand, vor der Geländewagen- und Fuscafahrer einträchtig Caipirinha tranken. Ein Wahnsinn, denn schon völlig klaren Geistes war jedes einzelne metertiefe Schlagloch eine große Herausforderung.
Nach wenigen Kilometern änderte sich unerwartet plötzlich der Straßenbelag. Wir fuhren wie auf Wolken, auf einer asphaltierten Straße bis Paraty.
Als ich Tereza von unserem Abenteuer berichtete, reagierte die, ebenso wie unsere Lehrerin Heloisa, völlig fassungslos. Ja, beide hatten die Küstenstraße gepriesen, die BR-101 war nie ein Thema gewesen.
Heute erzählte ich Eleene, unserer Empregada, von unserer Reise und zeigte die Fotos unseres steinigen Weges nach Paraty. Ungläubig riss sie die Augen auf. Einen Moment war sie stumm. Dann sagte sie nur noch „Nossa“.

Mittwoch, 5. Oktober 2011

Metrô de São Paulo: Linha 4-Amarela

Vor einigen Wochen hatten Tereza und ich einen Termin mit Celeste, einer Schneiderin, die in der Avenida José Maria Whitaker, unweit der Metrô Praça da Árvore, lebt und arbeitet. Da uns unter anderem ein Faible für den öffentlichen Nahverkehr und ein ausgeprägter Entdeckergeist verbindet, wunderte es mich keine Sekunde, als sie vorschlug, dass wir uns an der Estação Pinheiros treffen sollten, um die neue Metrô, die Linha 4-Amarela, auszuprobieren. Was für eine großartige Idee. Ich nahm also die CPTM, eine Art S-Bahn, und fuhr von der Estação Berrini zur Estação Pinheiros, an der sie bereits wartete.
Wir fuhren die Rolltreppe hinauf und tauchten ein in eine Welt kühler Sachlichkeit und intensiver Farben. Einmal oben angekommen, liefen wir einen modernen, exzellent ausgeschilderten Gang entlang und gelangten zur Linha 4.
Während wir auf vier langen Rolltreppen in die Tiefe fuhren, berichtete Tereza von den

dramatischen Ereignissen, die den Beginn der Bauarbeiten geprägt hatten: Am 12. Januar 2007 war die komplette Decke des Bahnhofs in sich zusammengestürzt und hinterließ einen Krater von mehr als achtzig Metern im Durchmesser. Mehrere Fahrzeuge, darunter ein vorbeifahrender Kleinbus, wurden geradezu verschluckt, auch der Kipplaster eines Bauarbeiters, der, nachdem der Alarm ertönte, zu seinem Fahrzeug geeilt war, um seine persönlichen Dokumente zu holen. Insgesamt sieben Menschen starben bei diesem tragischen Unfall.

Im Mai 2008, nach einer genauen Untersuchung der Unfallursache, wurden die Bauarbeiten wieder aufgenommen. Seit Ende Mai 2010 verkehrt die Linha 4 zwischen den Stationen Paulista und Faria Lima. Knapp ein Jahr später wurde die Strecke Paulista bis Butantã eröffnet. Seit dem 15. September fährt die Linha Amarela nun von Luz bis Butantã, wobei noch nicht alle vorgesehenen Stationen in Betrieb sind.
Berührt durch den Bericht über den Unfall, beeindruckt von der Architektur fuhr ich an

Terezas Seite auf den ThyssenKrupp-Rolltreppen weiter in die Tiefe. Die Linha 4 fährt ohne Fahrer, berichtete Tereza weiter. In über 30 Städten weltweit sei diese Technologie im Einsatz.

Auf dem Bahnsteig fühlte ich mich an die AirTrain des New Yorker John-F.-Kennedy-Airports erinnert, auch wenn die nicht halb so modern ist, wie die Linha 4, denn die Gleise sind ebenfalls durch Glastüren versperrt. Fährt die Metrô ein, öffnen sich diese.
Als wir einstiegen, war ich einmal mehr beeindruckt, denn die Hightech-Bahn vereint

Funktionalität und Ästhetik auf höchst gelungene Weise. Die durchgehende Bahn, die in weiß, grau, gelb und orange gehalten ist, besticht durch elegant geformte Chromstangen und formschöne Glasscheiben im Bereich der Türen. In der Metrô, die sonst von einem munteren Stimmengewirr erfüllt ist, herrschte andächtiges Schweigen, ganz als wären die Passagiere sprachlos ob der Schönheit der Umgebung. Nach nur zwei Stationen, an der Avenida Paulista, stiegen wir leider aus, um in die Linha 1 umzusteigen. Diese Tour, das war sofort klar, würde ich künftig in meine São Paulo-Führungen aufnehmen.

Gestern nun unternahm ich meine erste Tour und natürlich stand die Route Pinheiros bis Luz auf dem Programm. Die Gäste aus Deutschland waren sehr angetan.

Donnerstag, 29. September 2011

Dia do Administrador

„Für Donnerstagabend habe ich etwas für uns! Die Behörde (CRA-SP), für die der Ehemann meiner Cousine arbeitet, feiert am 22. September Jubiläum“. So begann die E-Mail von Cristina, meiner früheren Kollegin aus Berlin, die seit Anfang September hier als Assistentin meines Mannes arbeitet.
Ich erfuhr, dass die Feierlichkeit im Memorial da América Latina stattfindet, dass die Banda Sinfônica do Estado de São Paulo spielt und dass viele einflussreiche Paulistanos anwesend sein würden. Das klingt spannend. Was wird mich erwarten? Sicher werde ich der einzige deutschsprachige Gast sein. Soviel war klar: Diese Veranstaltung konnte ich mir nicht entgehen lassen.
Das imposante Memorial da América Latina, unmittelbar am Terminal Rodoviário da Barra Funda (Busbahnhof Barra Funda) gelegen, das vom berühmten brasilianischen Architekten Oscar Niemeyer entworfen und 1987 fertiggestellt wurde, war festlich beleuchtet. Wunderschöne Hostessen, die es locker mit Gisele Bündchen aufnehmen konnten, begrüßten die zahlreichen Gäste.
Ich trat ein in eine andere Welt. Der Innenraum stand der Außenansicht in nichts nach. Es präsentierte sich eine atemberaubende Kulisse, in blaues Licht gehüllt, das weiße Logo mehrfach dezent an die Wand projiziert, mit tropischen weißen Blumen in riesigen Glasvasen geschmückt. Diesen Glamour hatte ich bei Verwaltungsangestellten nicht erwartet.
An der Seite Cristinas und ihrer Cousine Renata lernte ich Flavio, deren Mann – den Organisator des Events kennen. Wahrlich brasilianisch unkompliziert und unkonventionell schüttelten wir wenig später Roberto Carvalho Cardoso, dem vorherigen Präsidenten der Institution und dessen Ehefrau die Hand. Ich lernte den Anwalt der Familie und dessen Freund Leandro kennen, der, nachdem er einem kurzen Austausch zwischen Cristina und mir gelauscht hatte, bescheiden und zurückhaltend in perfektem

Deutsch das Gespräch aufnahm. Unglaublich, da wähnt man sich unter 1000 Brasilianern und dann das.

Leandro, der für eine Partei tätig ist, hatte ein Jahr in Mannheim studiert. Wir plauderten, genossen die kulinarischen Köstlichkeiten und schritten dann zum Festakt in das Auditório Simon Bolívar. Spätestens als der Moderator den eigentlichen Festakt mit ausgesprochen sonorer Stimme einleitete, begriff ich, dass Administradores nicht, wie angenommen, Verwaltungsanstellte mit klassisch dreijähriger Ausbildung sind.
Das CRA-SP (Conselho Regional De Administração Do São Paulo), das zum 46. Jahrestag geladen hatte, repräsentiert 77.000 Verwaltungsfachleute und 12.000 eingetragene Unternehmen, also den öffentlichen und den privaten Sektor. Es regelt, auch im Namen des Ministeriums für Arbeit, den Berufsstand des studierten Verwaltungsexperten und stellt eine hohe Qualifikation seiner Repräsentanten sicher.
Ich konnte es nicht fassen, ich verstand (fast) jedes Wort, denn die Festredner sprachen getragen, in mäßigem Tempo. Besonders charmant und vermutlich auch eloquent setzte Guilherme Afif Domingos, der stellvertretende Gouverneur des Bundesstaates, die CRA-SP in den Kontext. Kleine Karteikärtchen, die ihn bei der Begrüßung der zahlreichen Ehrengäste unterstützen, tauschte der charismatische Redner dann gegen ein Manuskript, das er kaum ansah.
Eine feierliche Atmosphäre erfüllte den Raum, die schließlich wieder einen Moment lang wundervoll brasilianisch war: Nachdem sich der Vorhang für die Banda Sinfônica do Estado de São Paulo öffnete, konnte das Auditorium beobachten, wie einige Tontechniker letzte Vorbereitungen für den Einsatz der Musiker trafen, die peu à peu ihre Plätze einnahmen. Die Brasilianer sind schon cool. In Deutschland wäre diese Lässigkeit undenkbar.
Maestro Mark Sadao Shirakawa begrüßte darauf die Gäste und kündigte die Nationalhymne an. Das Auditorium erhob sich, während weitere Musiker eintrafen. Als die ersten Klänge der Hymne den Raum erfüllten, war ich gerührt. Da stand ich nun als Deutsche unter so vielen Brasilianern und lauschte zum ersten Mal bewusst der Hymne des Landes, in dem ich seit knapp über sieben Monaten lebe.
Ich erlebte einen internationalen Kunstgenuss: Werke des New Yorkers Alfred Reed, des Niederländers Johan de Meij und des Briten Edward Elgar wurden gespielt. Heitor Villa-Lobos, der international bekannteste brasilianische Komponist, und der kürzlich in São Paulo verstorbenen Cyro Pereira wurden präsentiert, unterbrochen durch kurze lehrreiche Einleitungen des Maestros.
Es war ein besonderer Abend, der amüsanter nicht hätte enden können, denn zwei Männer sprachen mich an, nachdem sie mich länger beobachtet hatten. Mutig fragte mich einer schließlich, ob ich eine Administradora sei und für ein Interview zur Verfügung stünde. Nein, ich sei selbst Journalistin, entgegnete ich. Traurig zog mein Berufskollege von dannen, während der schadensfrohe Kollege seine Häme kaum verbergen konnte. Offensichtlich hatte der Fotograf, der mit dem besseren Blick, die Wette gewonnen.