Freitag, 30. März 2012

Trifft die Kokosnuss auf den Pfirsich

Vivian Manasse Leite, die im Rahmen des Treffpunkt São Paulo, eines monatlichen deutschsprachigen Frühstücks zum Thema „Interkulturelle Herausforderungen in Brasilien“ referierte, begann assoziativ: Was den Teilnehmerinnen bei Kokosnuss und Pfirsich in den Sinn käme, wollte die Deutsch-Brasilianerin wissen. Ihr Einstieg, der klassische Icebreaker, erfüllte seine Funktion, doch die Expertenantwort blieb sie vorerst schuldig.
Die Juristin, die nach mehreren Auslandsaufenthalten ihre ursprüngliche Profession an den Nagel gehängt hatte und nun ein Unternehmen für Kulturtraining führt, setzte auf Interaktion und forderte die Teilnehmerinnen auf, farbige Klebezettel mit bestimmten Informationen zu versehen: Name und Haupteigenschaft, Herausforderungen und Warum Brasilien?
Allerlei Herausforderungen wurden aufs Tapet gebracht, mit denen sich die zahlreicher als sonst erschienen Teilnehmerinnen, herumschlagen: Arbeit, eine sinnvolle Beschäftigung, die eigene Verwirklichung wurde am häufigsten genannt, gefolgt von der Problematik Sprache.
Auch die Herausforderung Familie wurde immer wieder angeführt. Vom Bestreben, die eigenen Bedürfnisse mit denen der Familie in Einklang zu bringen bis zu ganz konkreten Problemen reichte das Spektrum. So formulierte eine Teilnehmerin den Wunsch, die Tochter auf den richtigen Weg bringen zu können. Ähnlich das Anliegen einer anderen Mutter, den Sohn zur Erledigung der Hausaufgaben motivieren zu können. Familienpower wünschte sich eine, Geduld und Verständnis andere – für den Alltag, insbesondere mit Kindern. Sich zu organisieren, die eigene Zeit sinnvoll einzuteilen, führten manche als Schwierigkeit an.
Die Realität zu akzeptieren, in São Paulo zu leben, erklärten zwei Teilnehmerinnen zu ihrer persönlichen Herausforderung. Der Wunsch danach, sich wohlzufühlen, sich auszukennen in der Megacity São Paulo wurde ebenfalls immer wieder genannt. Weite Wege, das nach deutschen Maßstäben immense Verkehrsaufkommen machen vielen zu schaffen.
Wieder andere fühlen sich allein, wünschen sich Kontakte, einen soliden Freundeskreis. Langjährigen „Paulistanas auf Zeit“ wiederum ist es ein Anliegen, mit dem Kommen und Gehen der Freunde zurechtzukommen.
Die brasilianische Kultur und Mentalität zu verstehen, mit Unzuverlässigkeit umgehen zu lernen, erhoffen sich manche, andere möchten gern die deutsche Kultur bewahren.
Herauszufinden, was die eigene Mission sei, rät die Expertin – ganz unabhängig von Mann und Kindern. Ein interessanter, in den Raum gestellter Ansatz.
Kurse zu besuchen, sei ein probates Mittel, berichtete die Unternehmerin weiter. Allein, ohne Freundinnen, um die Sprache zu lernen und mit Brasilianern in Kontakt zu kommen. Tauchten nämlich mehrere Freundinnen oder gar eine ganze Gruppe in einem Kurs auf, gewänne der Brasilianer den Eindruck, dass eine Kontaktaufnahme seinerseits unnötig, unerwünscht oder gar sinnlos sei. Der Brasilianer sei insgesamt wohl etwas sensibler als der entschlossene Deutsche. Er gleiche einem Pfirsich, der Deutsche hingegen eher einer Kokosnuss. Da trifft die weiche Außenhülle mit hartem Kern auf die harte Außenhülle mit weichem Kern. Ein kurz angerissenes Dilemma, an wenigen Beispielen verdeutlicht.
Wieder wurde es gruppendynamisch. Zettel wurden verteilt mit Begriffen, die es in der Gruppe, am Tisch, zu diskutieren galt. Schule, Dienstleistungen und Empregada, die Hausangestellte, wie sie hier allgemeinhin übersetzt wird, standen auf dem Stundenplan. Interessant die sehr persönlichen Erfahrungen in der „Empregada-Gruppe“: Von raumgreifenden Persönlichkeiten wurde berichtet, mit denen es schwer auszuhalten gewesen sei. Dies, so war zu erfahren, hatte die ein oder andere dazu bewogen, selbst wieder den Putzlappen zu schwingen. Diese Form der Problemlösung sei für eine Brasilianerin undenkbar, kommentierte die deutsch-brasilianische Kulturtrainerin, die ihrerseits eine überraschende Geschichte, zum Besten gab. So sei es durchaus nicht ungewöhnlich, wenn sich die Empregada schon einmal R$ 2.000,00 von ihrem Arbeitgeber leihen wollte. Dieser solle, so er ihr grundsätzlich vertraue, sicherstellen, dass der Betrag monatlich abgezahlt würde. Seien zehn Raten zuverlässig gezahlt worden, sollte man überlegen, ob man die ausstehenden Raten, je nach Monat, zu den wiederkehrenden Festen oder zum Geburtstag schenkt.
Nicht nur im Hinblick auf den Austausch über die Empregadas wurde deutlich, wie unterschiedlich die Erfahrungen und Lebenswirklichkeiten im gleichen Gastland sein können, ganz zu schweigen von den persönlichen Werten und Maßstäben. Kulturtraining zum Frühstück, ein großartige Idee mit interessanten Denkanstößen.

Freitag, 23. März 2012

Grüner Superlativ: Die Feira de Flores da CEAGESP

São Paulo ist eine Stadt der Superlative. Da verwundert es wenig, täglich auf beindruckende Zahlen, auf neue Rekorde zu stoßen. Doch dass die Megacity im Bereich Blumen und Pflanzen ganz weit oben steht überrascht, denn São Paulo ist die viertgrößte urbane Agglomeration der Erde und der größte Ballungsraum der Südhalbkugel.
Zwischen 1950 und 2010 stieg die Bevölkerungsdichte von 1.440 auf 7.260 Bewohner pro Quadratkilometer. In gleichen Zeitraum haben sich die Zahlen für den bewohnten Raum verachtfacht – von 455.000 auf 2,6 Millionen Wohnhäuser von oft beachtlicher Größe.
Während Berlin, das sich seines Baumbestands und seiner vielen Grünflächen rühmt, 490 Bäume pro Quadratkilometer zählt, kommt die Megacity gerade einmal auf 252 Bäume pro Quadratkilometer.
Und doch hat São Paulo einen grünen Superlativ zu bieten: Die Feira de Flores da CEAGESP (Companhia de Entrepostos e Armazéns Gerais de São Paulo). Der Blumenmarkt, von den Paulistanos noch heute CEASA genannt, ist der größte des Landes und gilt als drittgrößter weltweit.
Die heutige CEAGESP, die 1969 aus einem Zusammenschluss des besagten CEASA (Centro Estadual de Abastecimento) und der CAGESP (Companhia de Armazéns Gerais do Estado de São Paulo) entstanden ist, betreibt das größte öffentliche Lagerhallen-Netzwerk des Staates und einen Komplex aus 13 verschiedenen Großhandelsbetrieben.
Allein der Blumenmarkt, der zwei Mal pro Woche stattfindet, nimmt eine Fläche von 20.000 Quadratmetern ein, was knapp drei Fußballfeldern entspricht. 1.100 Produzenten vertreiben hier ihre Waren an Groß- und Einzelhandel, aber auch an Endkunden. Rund 4.000 Tonnen Schnittblumen und Topfpflanzen wechseln hier monatlich ihren Besitzer und generieren damit Einkünfte von R$ 20 Millionen pro Monat, wohlgemerkt innerhalb von acht Tagen im Durchschnittsmonat.
Ich bin keine Blumenfee. Eher das Gegenteil, denn ich habe unzählige Topfpflanzen auf dem Gewissen. Immer wieder habe ich es versucht, mal mehr, mal weniger glücklich, je nach Robustheit des Gewächses.
In Brasilien scheint sich das Blatt zu wenden, denn die Pflanzen, die uns eine Freundin, die in der ersten Juliwoche des vergangenen Jahres nach Deutschland zurückgekehrt ist, überlassen hatte, leben noch immer. Selbst eine Orchidee, die ich im Juni 2011 geschenkt bekam, blüht wieder, wobei dies wohl eher der liebevollen Pflege meiner Empregada zu verdanken ist, denn ich hatte das tropische Gewächs, nachdem alles danach aussah, dass seine Zeit gekommen war, in unserem Gästezimmer sich selbst überlassen, bis sich die Empregada des zarten Geschöpfes annahm.
Meine Abenteuerlust führte mich schließlich zum CEASA, denn was es auch ist, ich bin stets daran interessiert, meine neue, facettenreiche Stadt besser kennenzulernen. Eine Freundin hatte mich eingeladen, sie zu dorthin zu begleiten. Als die erklärte, dass wir gegen 6.00 Uhr aufbrechen müssten, war mein Interesse geweckt, denn allein die nachtschlafende Zeit versprach ein spannendes Erlebnis.
Als ich eines Freitags im Morgengrauen zustieg, realisierte ich sofort, dass ich mit Fachleuten unterwegs war, denn drei der Mitreisenden betreiben Ikebana, die japanische Kunst des Blumenarrangierens, das ich, bevor ich nach Brasilien kam, auch gern einmal mit Origami verwechselte. Nur eine der Anwesenden gehörte nicht zu den Eingeweihten, wenn ich auch annehme, dass sie weniger Pflanzen ins Jenseits befördert hat, als ich.
Ich war sprachlos, als sich der Markt vor uns auftat. Das hatte ich nicht erwartet. Ein wahres Blumenparadies, beeindruckender als jeder Botanische Garten. Hier gibt es wirklich alles, was auch nur die geringste Verbindung zu Blumen und Pflanzen aufweist: Ton- und Plastiktöpfe, Übertöpfe aller Art, Erde, Düngemittel, Dekorationsbedarf, Glaswaren, Papier, Verpackungsmaterial, Bänder. Und vor allem: Zimmer- und Gartenpflanzen jeder Art und Größe und jede nur denkbare Gattung von Schnittblumen.
Routiniert begannen die Expertinnen mit ihrem Einkauf, während wir Laien den geschäftigen Markt auf uns wirken ließen. Irgendwann hatte auch uns das Fieber erfasst. Mit fachkundiger Beratung erstand ich schließlich drei Helikonien, einen Bund Strelitzien, die Lieblingsblumen meines Mannes, fünf Lotusblumen und zwei Bromelien, eine als Geschenk. Dies bei verschiedenen Händlern, die jeweils äußerst hilfreich und sympathisch waren.
Ausgesprochen praktisch: Nach dem Kauf kann man die mit Namen versehene Ware am jeweiligen Stand zurücklassen und später entweder selbst abholen oder einen sogenannten “carregador”, einen Gepäckträger mit einem Karren, beauftragen, der die floralen Schätze ins Auto einlädt.
Als wir den CEASA gegen 9.00 Uhr verließen, war klar: Dieser Ort gehört eindeutig zu den Highlights der Megacity – visuell wie atmosphärisch.
Öffnungszeiten Feira de Flores da CEAGESP: Dienstag und Freitag 5.00-10.30 Uhr. Av. Dr. Gastão Vidigal, 1946, Vila Leopoldina, Tel. 11-3643-3907

Freitag, 16. März 2012

Als ginge die Welt unter…

Der Himmel verdunkelt sich, der Wind wird stärker, handtellergroße Regentropfen prasseln auf den heißen Asphalt. Es blitzt und donnert, bis plötzlich wachteleiergroße Hagelkörner vom Himmel fallen. Ein Wetterereignis, wie es nur in den Subtropen zu erleben ist.
Es hatte sich angekündigt, doch ich wollte an diesem Dienstag vor dem großen Regen noch schnell einen Einkauf erledigen. Als ich gerade bezahlte, brach das Unwetter herein. Eine Menschtraube sammelte sich im Eingangsbereich des kleinen Geschäfts, denn selbst der Regenschirm, mit dem der Paulistano in den Sommermonaten stets ausgestattet ist, vermag da nichts auszurichten. In diesen Momenten steht die Welt plötzlich still.
Schon am Wochenende zuvor waren wir von einem gewaltigen Regen heimgesucht worden. Als wir die Tür unseres Apartments öffneten, war es bereits geschehen: Nicht einmal mehr die Balustrade unseres etwas über ein Meter tiefen Balkons war zu erkennen. Kraftvoll prasselte der Regen vom schwarzen Himmel gegen die großen, bis zum Boden reichenden Panoramafenster. Ein starker Wind, der über den Balkon gefegt war, hatte unsere über zwei Meter hohe Pleomele reflexa, in Deutschland als Drachenbaum bekannt, in ihrem massiven Topf längst umgeworfen.
Schlimmer noch: Teile des Wohnzimmers waren überflutet und der Regen peitschte noch immer unvermindert gegen die Scheiben. Selbst wenn die leicht geöffnete Balkontür gänzlich geschlossen gewesen wäre, hätte sich das gleiche Bild geboten, denn später, bei geschlossener Tür, drangen die Wassermassen weiter durch die undichten Türen. Selbst diverse Putzlappen vermochten diese nur bedingt zu stoppen.
Fassungslos feudelten wir den Boden, denn wir wohnen nicht etwa im Erdgeschoss. Nein, wir leben im 16. Stockwerk. Nicht einmal eine Stunde später hatte sich der Wind gelegt. Die Sonne strahlte. Alles war, als hätte es diesen unglaublich starken Regen nie gegeben.
Ähnliches erlebte ich auch am Dienstag. Während draußen das Unwetter tobte, plauderte ich mit der Inhaberin des Geschäfts, das ich leichtsinnigerweise vor dem Regen besucht hatte, über ihr Sortiment, den Gesundheitszustand der Schwiegermutter und allerlei mehr. Plötzlich, von einer Sekunde auf die andere, legte sich der Wind. Regen und Hagel hörten unvermittelt auf und die Sonne strahlte wieder in ihrer ganzen Kraft, nachdem es Minuten zuvor den Anschein hatte, als ginge die Welt unter.
Ich machte mich auf den Heimweg, ohne den Schirm auch nur aufspannen zu müssen. Einmal mehr war ich allerdings dankbar für meine Havaianas, die Flipflops aus Kautschuk, denn alle Straßen in der Umgebung waren unterspült und die desolaten Bürgersteige waren zu reißenden Flüssen geworden. Ich balancierte auf dem Gehweg hin und her, mal nach links, mal nach rechts, herum um die besonders tiefen Krater, die sich in riesige Wasserlöcher verwandelt hatten, in der Hoffnung, die zweieinhalb Blocks so trocken wie möglich zurückzulegen. Diejenigen, die keine Havaianas trugen, tänzelten elegant und noch vorsichtiger um eben jene Wasserlöcher herum oder zogen sich einfach die Schuhe aus.
Auf der gesamten Strecke gelang es mir nicht, die Avenida Padre Antonio Jose dos Santos, deren Nebenstraßen ich geschickt passierte, zu überqueren. Also ging ich weiter, bis ich an eine Stelle kam, an der ein eifriger Faxineiro, die Reinigungskraft des nahegelegenen Hauses, alles daran setzte, den durch die herabgefallenen Blätter völlig verstopften Gully freizuschaufeln, um die Straße passierbar zu machen.
Dieses Mal machte mir die Nebenstraße Probleme, in die ich weiter hineingehen musste, um sie nach vielleicht 50 Metern überqueren zu können. Während der Faxineiro noch mit dem Laubwerk kämpfte, hatten die Damen der gegenüberliegenden Geschäfte ihre Arbeit bereits getan und für den reibungslosen Ablauf der Wassermassen gesorgt.
Nachdem ich nun endlich die Avenida Padre Antonio Jose dos Santos überquert hatte und nur noch ein halber Block vor mir lag, bot sich mir an unserer Straßenecke ein Anblick der Verwüstung. Ein Baum war umgestürzt und hatte unter sich ein Auto und zwei Telefonzellen begraben. Erschüttert standen die Mitarbeiter der angrenzenden kleinen Immobilienfirma davor und begutachteten den Schaden.
Im Apartment angekommen, war ich wenig verwundert, dass sich einmal mehr auf dem Fußboden unseres Wohnzimmers kleine Rinnsale gebildet hatte. Nachdem auch dieser Wetterschaden beseitigt war, machte ich mich erneut auf den Weg. Dieses Mal nach dem Regen.
Überall waren Reinigungskräfte, Geschäftsinhaber oder private Hauseigentümer dabei, die Folgen des Naturereignisses zu beheben. Einfahrten wurden gefegt oder mit dem Gartenschlauch vom Laub befreit, kleinere Reparaturen wurden vorgenommen. Alles völlig unaufgeregt und routiniert.
Vor dem Immobiliengeschäft waren inzwischen die Bombeiros, die Feuerwehr, eingetroffen. Wenig später war der Baum vollständig gefällt, das Auto und die Telefonzellen befreit. Bereits kurz nach dem Regen war alles wieder so wie zuvor.

Freitag, 9. März 2012

Wohnen in São Paulo: “Vagas para rapazes” und mehr

Diese oder ähnliche Anzeigen prangen an Straßenlaternen oder Strommasten. Nie hatte ich darüber nachgedacht, was diese drei Worte eigentlich bedeuten. Bislang hatte ich den kleinen Klebezetteln, die günstige Krankenversicherungen, Wohnungen oder Dienstleitungen anpreisen, wenig Beachtung geschenkt.
Ein Mitarbeiter meines Mannes, selbst auf der Suche nach einem Zimmer, setzte mich schließlich ins Bild: „`Vagas para rapazes` sind Schlafplätze in einem Zimmer, das sich mehrere Bewohner teilen. Diese Zimmer seien in der Regel mit Doppelstockbetten ausgestattet. Gemietet würden die Schlafplätze meist von Arbeitern, Berufsanfängern oder Studenten, die fernab Ihres Heimatorts studierten. Die gleiche Wohnform würde auch für Frauen angeboten, als “vagas para moças“. Ob für “rapazes” oder “moças”: Die engen Wohnräume seien stets streng nach Geschlechtern getrennt, in der Regel handele es sich um voneinander getrennte Häuser. In São Paulo sei ein solches Bett ohne jede Privatsphäre ab R$ 400,00 (€ 174,00) zu bekommen. Wenn nicht explizit “vagas” annonciert seien, würde der Suchende auch unter dem Stichwort “Pensionatos” oder “Hopedarias” fündig.
Nachdem ich diese Art der Zimmerteilung im ersten Moment für Deutschland ausgeschlossen hatte, kam mir der Berufszweig der Monteure in den Sinn. In Berlin, so erinnerte ich, hatte ich in der Tat ähnliche Aushänge gesehen.
Beliebter, so der Kollege meines Mannes, sei der “fundo de quintal”, wörtlich übersetzt Hinterhof. Gemeint ist damit der Bereich, der für das Personal vorgesehen ist, das sogenannte “quarto de empregada”, das Dienstmädchenzimmer. Nachdem Empregadas heute nur noch selten in den Familien leben, stehen diese Zimmer häufig leer, werden als Stauraum genutzt oder eben vermietet.
Mancher Zimmersuchende, so meine Recherche, fahndet auch per Internet nach einem oder höchstens zwei Mitbewohnern. Häufiger noch verläuft die Suche jedoch andersherum. Die beiden Internetportale, die entsprechende Angebote vermitteln, gleichen Dating-Plattformen, denn hier präsentieren sich Männer und Frauen attraktiv in Wort und Bild. Diese edlere Form des geteilten Wohnens, die gern auch von internationalen Nachwuchskräften gewählt wird, kann durchaus schon einmal an die R$ 2.000,00 (€ 865,00) pro Person oder mehr kosten.
Irgendwann stieß ich auf die klassischen Wohngemeinschaften, die sich in Europa nach wie vor großer Beliebtheit erfreuen. Wer hätte auch gedacht, dass die als “Repúblicas” bezeichnet werden. Doch bei genauerer Betrachtung macht dies durchaus Sinn, denn diese Wohnform zeichnet sich schließlich allgemeinhin durch demokratische Strukturen aus. Preislich liegt ein Zimmer mit individueller Nutzung bei R$ 600,00 (€ 260,00).
Gefragt bei Wohnraumsuchenden mit niedrigerem Budget ist die Kitchenette, ein Zimmer mit integrierter Küchenzeile, in São Paulo auch unter den Namen “kitnet” oder “Quitinete” gehandelt, das, da es sich gleichsam um ein eigenes Apartment handelt, allerdings ungleich kostenintensiver ist.
Junge Menschen mit höherem Bildungsabschluss, die aus Familien mit einem durchschnittlichen Monatseinkommen von über R$ 9.000,00 (€ 3.895,00) stammen, ziehen es vor, zuhause zu wohnen. Laut einer Untersuchung aus dem Jahr 2009 leben 62 Prozent der 25- bis 29- Jährigen im Elternhaus. In der Altersgruppe der 30- bis 34- Jährigen sind es immer noch 30 Prozent.
Befragt, warum die als „Jovens Cangurus” die elterliche Wohnung nicht verlassen würden, gaben sie an, ihr Studium fortsetzen zu wollen und nicht auf den Komfort und den Lebensstandard, der ihr Leben ausmache, verzichten zu wollen. Die Eltern, so wurde ebenfalls angeführt, würden den nötigen Freiraum gewähren, Freunde und Partner seien im Elternhaus willkommen. Auch deutlich jenseits der 30er Marke, im Alter zwischen 35 und 39 Jahren, leben ganze 15 Prozent noch in der Ursprungsfamilie. Verdenken kann man es den jüngeren Studenten nicht, denn neben den Mietpreisen für attraktive Wohnräume, die noch dazu schwer zu finden sind, sind die Kosten für ein Studium an einer guten Universität immens.
Ich unterstützte den Kollegen meines Mannes bei der Zimmersuche. Wir sprachen mit Geschäftsleuten in der Umgebung, klebten sorgfältig gestaltete Anzeigen mit Abreißzetteln an Strommaste und Straßenlaternen. Zusätzlich schaltete er Anzeigen in zwei verschiedenen Wochenzeitungen.
Zu zwei Besichtigungen begleitete ich ihn, denn ich wollte mir einen Eindruck verschaffen. Eine Vermieterin ganz in der Nähe bot erst ein Zimmer an, das an ihr Schlafzimmer angrenzte, und, als sie unser Zögern spürte, schließlich den “fundo de quintal”, der höchstens vier Quadratmeter groß und ebenfalls ausschließlich über den Privatbereich zu erreichen war, zum Preis von R$ 800,00 (€ 344,00).
Wenige Tage später besichtigte der Kollege einen weiteren “fundo de quintal”, dieses Mal mit separatem Eingang. Das Zimmer, so berichtete er, sei allerdings kleiner als das gemeinsam besichtigte gewesen und hätte, anders als das zuvor gesehene, nicht einmal einen Einbauschrank.
Einen Glückstreffer landeten wir am darauffolgenden Wochenende. Bereits die schöne, alleenartige Straße ließ hoffen. Wir hielten vor einem geräumig anmutenden Haus, in dessen Vorgarten eine prächtige Palme wuchs. Unser Eindruck setzte sich fort, als ein sympathischer, zurückhaltender Mann das Tor öffnete, der uns sogleich an seine quirlige Ehefrau weiterreichte, mit der wir das großzügige Grundstück und das zur Vermietung stehende Zimmer besichtigten. Einfach toll, ein separates Haus mit einer großen Wohnung im ersten Stock, angemietet von einer amerikanischen Schriftstellerin, und, im Erdgeschoss, zwei einander gegenüberliegenden, abschließbaren, großen und geschmackvollen Zimmern mit Wohnungscharakter und Ausblick auf einen wunderschönen Garten mit Maulbeerbaum, jeweils mit komplett neuen Bädern, zum Preis von R$ 850,00 (€ 366,00).

Freitag, 2. März 2012

Womit die stylische Paulista ihre Füße schmückt

Brasiliens Schuhproduzenten steigerten laut des Branchenverbands Abicalçados ihre Produktion 2010 um 5,5 Prozent auf 893,4 Millionen Paare und lagen damit hinter der Volksrepublik China und Indien auf dem dritten Platz weltweit.
Hinzu kam der Import von 536,8 Millionen Paaren, vorwiegend aus anderen südamerikanischen Ländern und aus Europa. Ausgeführt hat Brasilien dagegen nur 148 Millionen Schuhe. Folgerichtig standen in Brasilien im Jahr 2010 ganze 1.288 Millionen Paare, also etwas mehr als sechs Paar Schuhe pro Einwohner und Jahr, zur Verfügung.
Produziert wurden 487,4 Millionen Schuhe aus Plastik, 252,7 Millionen Lederschuhe, 88,2 Millionen Sportschuhe und 65,6 Millionen Paar Schuhe aus anderen Materialien. Größte brasilianische Produzenten sind die Firmen Vulcabrás/Azaleia, Grendene, Paquetá, Ramarim und Piccadilly.
Laut der Associação Brasileira de Lojistas de Artefatos e Calçados (ABLAC) gibt es in Brasilien 28.045 Schuhgeschäfte, 7.709 davon befinden sich im Estado de São Paulo. Damit liegt der Bundesstaat – und damit vermutlich auch die Megacity – auf Platz eins, gefolgt von Minas Gerais, dem nach São Paulo bevölkerungsreichsten Bundesstaat, der allerdings knapp 4.000 Geschäfte weniger verzeichnet.
Gefühlt liegt die Zahl für die Megacity weit höher, denn beispielsweise allein im Morumbi Shopping, einem Einkaufscenter mittlerer Größe, liegt die Zahl der Schuhfachgeschäfte allein für Damen bei 17. Hinzu kommt, dass praktisch jedes Bekleidungsgeschäft Accessoires passend zur Kleidung verkauft, von Schuhen, Taschen bis hin zu Gürteln und mehr.
In Brasilien legt man Wert auf die äußere Erscheinung, mehr als in Deutschland und deutlich mehr als in Berlin, der Stadt, in der ich lange gelebt habe. Styling, Fashion und Accessoires präsentieren sich meist in Vollendung. Selbst beim Sportoutfit, das die Brasilianerin häufig am Wochenende zum Gang in die Padaria, die Bäckerei, wählt, stimmt jedes Detail. An heißen Sommertagen trägt die stylische Paulista auf diesen Wegen auch gern Havaianas, Flip-Flops, den brasilianischen Exportschlager im Bereich Schuhwerk, an die ich mich nur mühsam und mit einigen Schmerzen gewöhnt hatte.
Fortan trug ich sie allerdings mit Freude, denn das subtropische Schuhwerk federt fantastisch auf den desolaten Bürgersteigen und trotz jedem noch so starken Regenguss. Perfekt für jeden, der wie ich, fast täglich weite Strecken zu Fuß zurücklegt.
Bis zu einer Begebenheit, die mich das Thema Schuhwerk neu reflektieren ließ: Nachdem ich einen Besucher bis zum Nachmittag durch die gesamte Innenstadt geführt hatte, schlug der vor, eine Galerie in Jardins, einem mondänen Bezirk der Stadt, zu besuchen. Eine Freundin sei bekannt mit dem Galeristen und habe einen kurzen Besuch angeregt.
Wir machten uns also auf und begannen mit einem Galerierundgang. Keiner, aber wirklich keiner der vier Anwesenden schenkte uns Beachtung. Im schattigen Hof warteten wir geduldig, bis der Galerist sein Telefonat beendet haben würde. Nach ungefähr zwanzig Minuten wurde dem Besucher die Missachtung jedoch zu viel, er wollte gehen. Ein solches Verhalten sei nicht üblich, erklärte ich entschuldigend, und versuchte den enttäuschten Besucher von der ausgesprochenen Freundlichkeit und Zugewandtheit der Brasilianer zu überzeugen.
Als ich in meinem Umfeld von diesem Vorfall berichtete, kam unmittelbar die Frage nach unserer Kleidung auf: Shorts, ein T-Shirt beziehungsweise Polohemd und, für die langen Strecken, Havaianas. Das erkläre alles, äußerten die Befragten einhellig, denn gerade in Gegenden wie Jardins sei ein entsprechendes Outfit angeraten. Hier sei man eher versnobt.
Ich begann, das Schuhwerk der Damen genau unter die Lupe zu nehmen: Auch wenn die Kautschukschuhe, ursprünglich nahezu ausschließlich von weniger Begüterten getragen und als lange Zeit als “chinelos de pobre“, Hausschuhe der Armen, bekannt, um die Jahrtausendwende herum durchaus salonfähig und zum Modeartikel wurden, werden die klassischen Havaianas doch eher zum Gang in den Salão de Beleza, zum kurzen Einkauf um die Ecke oder am Strand getragen.
Ich beschloss, aufzurüsten, auch wenn ich aufgrund meiner sehr europäischen Schuhgröße bereits zwei glücklose Versuche, mein Sortiment an Sommerschuhen aufzustocken, hinter mir hatte. In beiden Fällen hatte ich mich zu Schuhen in Größe 39, einer deutschen 40, überreden lassen, da Zwischengrößen hier leider unbekannt sind, die Auswahl bereits in Größe 39 sehr übersichtlich ist und ich aus der Nummer 40 beim Probieren häufig herausgeschlüpft war.
Bei Shoestock, einem beliebten Schuhgeschäft mit großem Sortiment, wollte ich mein Schuhproblem lösen. Kaum hatte ich das Fachgeschäft betreten, erlitt ich einen ersten Schock, bis ich den Bereich für die Größen 39 und 40 entdeckte, denn die Regale des Hauptbereichs endeten mit Schuhgröße 38. Einmal mehr erschütterte mich auch die Auswahl, denn das Gros der Schuhe war unendlich hoch, anders als in Deutschland, wo die Absatzhöhe in der Regel zwischen drei und acht Zentimeter beträgt.
In Brasilien trägt Frau gern High Heels mit geradezu schwindelerregend hohem oft dünnem Absatz, meist über zehn Zentimeter. Das verwundert wenig, denn die sehr körperbewussten Brasilianerinnen sind im Durchschnitt nur 161,1 Zentimeter groß, im Unterschied zu deutschen Frauen, die statistisch gesehen 5,6 Zentimeter größer sind.
Ich probierte zahllose Modelle, auch High Heels, selbst wenn sie für mich nicht praktikabel sind, denn anders als Demi Moore, die einem Reporter auf der Fashion Week in New York auf die Frage, wie sie das Leben auf High Heels meistere, lapidar antwortet: „Schau, ich sitze schon“, laufe ich zu viel für das delikate Schuhwerk.
Nach ungefähr einer Stunde, denn ich wollte nicht erneut das Risiko eingehen, die Schuhe nicht tragen zu können, verließ ich das Geschäft mit einem Paar Peep-Toes mit ganzen fünf Zentimetern Absatz und mit wunderbar bequemen Rasteiras, der eleganten Variante der legendären Havaianas, aus Leder, besetzt mit funkelndem Strass.