Donnerstag, 30. Juni 2011

Klänge der Großstadt

Als wir die erste Nacht in unserem neuen Apartment verbrachten, waren wir irritiert. Gespenstisch still war es hier, in der Cidade Monções. Das waren wir nicht gewohnt, nach den vielen Monaten, in denen uns die monotonen Klänge von Presslufthämmern und die wummernden Bässe aufgemotzter Aufreißerschlitten, die nach einem  ausführlichen Tankstop oder einer nächtlichen Party an der ALE-Tankstelle durch die Rua Guararapes zwischen der Avenida Engenheiro Luís Carlos Berrini und der Avenida Nações Unidas donnerten, durch die Nacht begleitet hatten.
Nachdem die Professionals am frühen Abend ihre Büros verließen, trafen sich, sobald die Sonne unterging, Männer mit schwerem Gerät, um eine der drei Straßen aufzureißen. Mein Mann entwickelte irgendwann die Theorie, dass es sich bei diesen Unermüdlichen um frustrierte Manager handelt, die sich, statt in ein Fitness-Studio zu gehen, entschlossen hatten, die Frustrationen des Alltags auf diese sehr archaisch-männliche Weise zu bearbeiten. Kaum war ein Projekt beendet, gingen die Herren der Presslufthämmer an anderer Stelle mit unverminderter Lautstärke zu Werke.
Dank unserer nächtlichen Machos in ihren funkelnden Flitzern waren wir stets über die aktuellen Sommerhits informiert. Wir hörten sie alle, die Songs, mit denen sie die Damen zu beeindrucken versuchten. Unfassbar, in welcher Qualität uns die Top Ten zu Ohren kamen. So glasklar gab meine Berliner Musikanlage die Sounds nicht wieder.
Ländliche Idylle hingegen herrscht zwischen der Rua Califórnia und der Rua Nova York: Tagsüber zwitschern die Vögel, nachts ist alles still. Nur der zarte Klang einer Vogelstimmen imitierenden Flöte klingt durch die Nacht. Und genau dieser Klang, der so ungewohnt war, gab uns des Nachts Rätsel auf. Wir lauschten, lauschten wieder und konnten uns dieses regelmäßig wiederkehrende Klangereignis nicht erklären.
Meine Freundin Heike, die abgeschieden in einer reinen Wohngegend lebt, setzte uns ins Bild: Durch die Flöten informieren sich die Straßenwächter untereinander. Eine bestimmte Klangfolge signalisiert, dass keine Gefahr besteht oder dass Gefahr im Verzug ist. Dies ließ uns wieder ruhig schlafen. Nicht Presslufthämmer und Musikanlagen hatten uns um den Schlaf gebracht – nein, eine kleine Flöte hatte uns Rätsel aufgegeben.
Auch als mein Mann kürzlich in Deutschland war, hat die Stille ihm den Schlaf geraubt. In einem idyllischen Landhotel im Badischen war er stundenlang damit beschäftigt, der ungewohnten Stille zu lauschen.
Als ich vor Jahren nach einem längeren Aufenthalt aus New York zurückgekehrt bin, sah ich im Kino einen Film, der eine wertvolle Anregung für diejenigen, die den Klang der Großstadt vermissen, gab. Ich ärgerte mich, dass ich nicht, wie der Protagonist des Films, auf die Idee gekommen war, die Geräusche der Stadt aufzuzeichnen, um so meine Sehnsucht zu stillen und mich in die Straßen der Stadt, die niemals schläft, zurückzuversetzen.
Während meines nächsten New York-Aufenthalts hatte ich den Finger häufig auf der Aufnahmetaste meines Mobiltelefons. Ich nahm unter anderem die Sirenen eines Feuerwehrautos auf, deren Klang mein gesamtes deutsches Umfeld jahrelang irritierte, denn ich wählte diesen als Klingelton.
Sollten wir São Paulo je wieder verlassen, werde ich sie aufnehmen, die Klänge Brooklins– die Presslufthämmer, die wummernden Musikanlagen und die zarten Flöten, denn eines Tages werde ich die Klänge vermissen.

Montag, 27. Juni 2011

Tourist in der Megacity

Grün, gelb oder rot sind sie. Mit klassischem Dach, Panoramaverglasung oder ganz offen. Fleißige Promotoren laden zur nächsten Fahrt mit ihnen ein. Sie sind aus dem Stadtbild internationaler Metropolen nicht wegzudenken – die Stadtrundfahrtbusse. Doch in São Paulo sucht man sie vergeblich.
Die Stadt, so scheint es, will klassisch erobert werden. Und auch dabei macht sie es dem Touristen nicht leicht, mit ihren völlig desolaten Gehwegen, die den Namen Bürgersteig nicht verdienen, mit ihren vermeintlichen Zebrastreifen, die keine sind. Dass die Streifen auf den aus Schlaglöchern bestehenden Straßen keine Bedeutung haben, stellt der gewöhnliche Tourist allerdings erst dann fest, wenn ihn ein Auto fast umgenietet hat.
Ist man in der Stadt, deren Fahrzeugbestand im Jahr 2011 auf sieben Millionen angewachsen ist, nicht motorisiert, gilt es, einen günstigen Weg zum Ausgangspunkt der individuell gestalteten Stadtrundfahrt zu wählen. Und sogleich beginnt das Abenteuer.
Per CPTM, einer Art S-Bahn, mit dem Bus und der U-Bahn gelangt der Tourist in die Innenstadt. Um sich eine Vorstellung von den Ausmaßen der gigantischen Megacity zu verschaffen, empfiehlt es sich, mit dem Edifício Altino Arantes (Banespão) zu beginnen, das von seiner 160 Meter hohen Aussichtsplattform einen 360-Grad-Panoramablick über die Stadt bietet. Das 1949 eröffnete Gebäude, das an das Empire State Building in New York erinnert und zwanzig Jahre lang das höchste Gebäude der Welt war, ist Montags bis Freitags von 10.00-15.00 Uhr für Besucher, die sich mit einem Fotodokument identifizieren müssen, frei zugänglich (Rua João Brícola 24, Tel.: 3249 7466).
Fußläufig, in der Rua da Cantareira 306 (Tel.: 3313 1326, www.mercadomunicipal.com.br), befindet sich der Mercado Municipal, ein Gebäude im Barockstil, das in den frühen 1930er Jahren erbaut wurde. In der täglich von 06.00 bis 18.00 Uhr geöffneten, belebten Markthalle mit ihren prächtigen, fast sakralen Mosaikfenstern bietet sich dem Touristen ein Meer an Farben. Obst in allen Formen und Farben wird von eifrigen Verkäufern zum (nicht kostenfreien) Probieren gereicht. Wurst, Käse, Fleisch werden aufwändig dekoriert dargeboten.
Frisch gestärkt sollte sich der interessierte Tourist das Mosteiro de São Bentobeziehungsweise die zum Kloster gehörende Basílica de Nossa Senhora da Assunção (Largo de São Bento, Tel.: 3328 8799, www.mosteiro.org.br) nicht entgehen lassen. Die Kirche mit ihren zwei Türmen und ihrer Orgel mit den über 6000 Orgelpfeifen wurde, wie das Kloster, im frühen 20. Jahrhundert erbaut. Sonntags erfüllen die Mönche mit ihren gregorianischen Gesängen diesen Rückzugsort in der innerstädtischen Wüste.
Möchte man der Hektik der Megacity entfliehen, ist der Parque Do Ibirapuera (Tel.: 5573 4180, www.parquedoibirapuera.com), der als São Paulos Antwort auf den New Yorker Central Park gilt, die erste Adresse. Zwar ist der Klang der Stadt stets in Hörweite, doch insbesondere während der Woche bietet der Park mit seinen Pavillons und Plazas, die vom berühmten brasilianischen Architekten Oscar Niemeyer gestaltet wurden, und das ausgezeichnete Museu de Arte Moderna einen Kontrapunkt.
Auch mitten in der Stadt tun sich, völlig unerwartet, kleine innerstädtische Paradiese auf. In Moema beispielsweise. Völlig aus dem architektonischen Zusammenhang gerissen erstreckt sich zwischen der Avenida dos Eucaliptos und der Avenida Cotovia die Rua Normândia. Dieses kleine, idyllische Sträßchen mutet fast wie eine Filmkulisse an und ist einer der Orte, die es unbedingt zu entdecken gilt, in dieser Stadt, die erobert werden will und sich eben nicht auf dem Silbertablett präsentiert.

Abschiedsschmerz versüßen

Mit meinen Gedanken war ich bereits in São Paulo, lange bevor ich im November 2010 das Flugzeug bestieg, um meinen Mann erstmalig in unserer zukünftigen Heimat zu besuchen. Meine Reisevorbereitungen waren zudem hektisch verlaufen, ich hatte tausende Dinge vergessen.
Wir machten uns also auf zu Morumbi Shopping, um mich mit den zurückgelassenen Produkten auszustatten. Wie schön, dachte ich bei mir: Hier gibt es alles, was das Herz begehrt, auch meine geliebte Wimperntusche Lancôme Hypnôse. Am Eingang bereits nahm uns eine stylische Verkäuferin in Empfang, die wir unter Einsatz unserer Körpersprache, denn viel mehr als zwei oder drei Worte beherrschten wir noch nicht, zum richtigen Regal lotsten, aus dem ich sogleich meine Lieblingswimperntusche entnahm. Die charmante Verkäuferin nannte den Preis, der in meinen Augen geradezu poetisch klang, und wir gingen zur Kasse.
Als mein Mann den Kreditkartenbeleg unterzeichnete, wurde er blass, denn dieses kleine schwarze Etwas, gefüllt mit 6,5 Millimetern schwarzer Farbe, kostete sage und schreibe R$ 168,00, fast 74 Euro. Ich gebe zu – mich hat der Preis ebenfalls umgehauen, denn in Deutschland zahlt man gerade einmal 28 Euro.
Auch im Supermarkt staunte ich nicht schlecht. In der Vorweihnachtszeit wurden Lindor Kugeln für R$ 30,49, also EUR 12,91 gehandelt. Ähnlich sieht es aus bei Nutella und Co, all den importieren Produkten, die einem den Abschiedsschmerz ein wenig versüßen. Da hält man sich besser an einheimische Süßwaren oder die US-Importe, die deutlich weniger kosten, oder schränkt den Konsum ein, denn der Genuss bleibt nach dem kurzfristigen Endorphin-Rausch ohnehin nicht folgenlos.
Bleiben für den deutschen Gaumen die Freuden eines herzhaften Frühstücks oder Abendbrots, mit Müsli, Wurst, Käse und gutem Brot. Wir haben viel ausprobiert. Zahllose Müslis, die einfach nur zuckersüß sind. Hier empfehlen sich die Produkte von Nestlé oder die bekannter US-Produzenten.
So gut das brasilianische Fleisch ist, so schlecht ist die angebotene Wurst. Also verzichten oder die guten italienischen Erzeugnisse kaufen. Dies gilt leider auch für den Käse, der in Deutschland in großer Vielfalt und exzellenter Qualität angeboten wird. Das deutsche Käseliebhaber-Herz schlägt höher in der Casa Santa Luzia, wobei einem dort auch gern einmal der Atem stockt. An einer Käsetheke, ich habe mich nicht getraut genauer hinzusehen, wurden Käse im Bereich von mehreren Hunderten Reais edel präsentiert.
Vom brasilianischen Brot hatte ich mir, nach leidvollen Erfahrungen in den USA, nicht allzu viel versprochen. Ausgerechnet hier wurden wir überrascht, durch die Padaria Leirense in der Nähe unseres Hotels, die 23 Stunden täglich köstlichstes französisches Baguette und knusprige italienische Ciabatta anbietet, noch dazu unschlagbar günstig.
Nach einigen Monaten haben wir unsere Produkte gefunden, die wir sukzessive erweitern. Polenghi, einen Streichkäse, zum Beispiel mögen wir sehr, insbesondere den mit Gorgonzola-Geschmack.
Wirklich großartig ist die warme brasilianische Küche: Unübertroffen unser erstes Churrasco im Vento Haragano, die Feijoada da Lana oder die Moqueca im Consulado da Bahia.

Dienstleister – Lavanderia

Wir lebten im Hotel, mein Mann über sieben Monate, ich knapp vier Monate. Mit meiner Ankunft stieg die Wäschemenge drastisch an und wir beschlossen, auf den überteuerten Service des Hotels zu verzichten und eigene Recherchen anzustellen.
Schnell stieß ich auf zwei Anbieter: DRYCLEAN USA und 5 à Sec. Meinen Test begann ich mit 5 à Sec. Sogleich war ich verblüfft, mit welcher Liebe die geschulte Mitarbeiterin jedes einzelne Kleidungsstück behandelte. Fast zärtlich berührte sie das erste Hemd, tippte die Marke in den Computer und legte es sorgfältig zur Seite. Dann wurde das nächste Stück ebenso liebevoll erfühlt, erfasst und erledigt. Der Prozess dauerte eine Ewigkeit. 5 à Sec liebt edle Kleidung, berichtete ich meinem Mann, und beschrieb den Umgang mit den Kleidungsstücken, den ich so in Deutschland noch nicht beobachtetet hatte.
Auch unsere Wäsche musste irgendwo gewaschen werden. Ich entschloss mich, auch wenn der Name dies nicht nahelegt, DRYCLEAN USA zu testen und war erleichtert, dass die Wäscheabgabe etwas anders verlief. Die Mitarbeiterin mit dem schönen, wenn auch etwas verunstalteten Namen „Greice Kelli“ ging etwas burschikoser zur Sache. Aus einem Gefühl heraus hatte ich im Vorfeld alle Wäschestücke erfasst, was sich im Nachhinein als gute Idee erweisen würde, nicht nur zum Vokabelnlernen.
Ich gab Hemden, Blusen, Tops, lang- und kurzärmlige T-Shirts, Unterwäsche und Strümpfe ab, die ich drei Tage später wieder abholen konnte. Außer der Tatsache, dass alle Wäschestücke weiß waren, konnte ich keine Gemeinsamkeit erkennen, insbesondere nicht in der Stoffmenge. Das sieht man bei DRYCLEAN USA offensichtlich anders.
Als ich die Wäsche am Abholtag um 17.00 Uhr abholte, verließen die Professionals rund um die Avenida Engenheiro Luís Carlos Berrini gerade ihre Büros. Ich erntete irritierte Blicke, als ich die Wäsche zurück ins Hotel trug. Davon berichtete ich meiner Freundin Tereza, die ebenfalls überrascht reagierte, denn in Brasilien lässt sich jeder Kunde seine gereinigte Kleidung nach Hause liefern. Wieder hatte ich etwas gelernt. Ich sollte noch mehr lernen an diesem Tag.
Im Hotel überprüfte ich die Kleidungsstücke. Zwei T-Shirts waren unauffindbar, ein sehr freizügiges Top, das ich nie zuvor gesehen hatte, fand sich zwischen unserer Kleidung. Die Unterwäsche fehlte gänzlich. Ich konsultierte das Wörterbuch und machte mich wieder auf in die Reinigung.
Mit meinem rudimentären Portugiesisch versuchte ich, Greice Kelli ins Bild zu setzen. Die Suche begann. Immer wieder wurden mir neue Kleidungsstücke präsentiert, in der Hoffnung, dass ich unsere wiedererkennen und zustimmend nicken würde. Nach einer Ewigkeit hatten wir alles beisammen und ich verließ glücklich das Geschäft.
Dieses Schauspiel wiederholte sich nun wöchentlich, bis meine Freundin Tereza einschritt. Es könne nicht sein, dass ihre Freundin jede Woche Zeit darauf verwenden würde, Listen über die abgegebenen Kleidungsstücke zu erstellen und schließlich doch jedes Kleidungsstück einzeln identifiziert werden müsse. Auch thematisierte sie die gleiche Berechnung von Tops und Langarmshirts, was sich fortan auf die Berechnung auswirkte. Schließlich bat sie darum, die Kleidungsstücke zukünftig im Hotel anzuliefern.
Die Damen in der Reinigung waren geplättet und ich war gespannt auf die Anlieferung, die am nächsten Tag anstand. Wieder kein Volltreffer. Ich reklamierte noch drei oder vier Mal, bis die Reinigung in der letzten Maiwoche eine Punktlandung machte – Tage, nachdem unsere eigene Waschmaschine angeliefert wurde.

High Noon oder Paulista pilgern

Meist ist die Rua Guararapes zwischen der Avenida Engenheiro Luís Carlos Berrini und der Avenida Nações Unidas menschenleer.
Als ich an einem meiner ersten Tage in der Stadt gedankenverloren vom Balkon hinuntersah, bot sich mir ein ganz anderes Bild: Auf einen Schlag bevölkerte sich die Straße. Zahllose Menschen im Business-Outfit drängen innerhalb von Minuten auf die engen Bürgersteige. Was machen all die Menschen nur so plötzlich hier, fragte ich mich, als ich diese Szene beobachtete.
Vielleicht findet eine große Konferenz in der Nähe statt, dachte ich. Ich setzte mich wieder an den Computer, und als ich einige Stunden später wieder vom Balkon blickte, war die Straße wieder wie ausgestorben.
Das Bild wiederholte sich, am nächsten und am übernächsten Tag. Da ich ohnehin einige Erledigungen geplant hatte, machte ich mich auf den Weg, um die Völkerwanderung näher zu betrachten: Ich sah die Menschen allein, in kleineren oder größeren Gruppen in Restaurants pilgern. Eigentlich naheliegend in Anbetracht der Uhrzeit, dachte ich mir.
Aus Deutschland kannte ich diese kollektive Pilgern zum Mittagessen nicht, weder in Berlin-Mitte um den Potsdamer Platz noch im Prenzlauer Berg oder in westlichen Stadtbezirken wie Charlottenburg.
In den meisten Unternehmen, in denen ich gearbeitet hatte, wurde der mittägliche Hunger zwischendurch vor dem Computer gestillt. Eine Ausnahme bildete das Unfallkrankenhaus Berlin, dessen Pressesprecherin ich bis zu meiner Abreise nach Saõ Paulo war. Am äußersten östlichen Rand der Stadt, quasi im Niemandsland ohne nennenswerte Einkaufsmöglichkeiten, gelegen, betrieb die Klinik ein Casino, das Mitarbeitern und Besuchern offen stand. Ich brauchte allerdings fast ein Jahr, bis ich mir den Genuss eines Mittagessens gönnte, denn es war stets viel zu tun.
In Saõ Paulo herrscht ganz offensichtlich eine andere Kultur. Mittags wird scheinbar ausgiebig geschlemmt. Im Rahmen meiner Recherche im Februar war ich fast schockiert, denn vor vielen Restaurants waren Tafeln mit den Worten por quilo angebracht. Keine Frage: Ein gutes Mittagessen stärkt den Organismus. Doch dass die Menschen mittags por quilo genießen, schien mir tatsächlich etwas übertrieben.
Nun, der Selbsttest ergab, dass das Angebot keine Wünsche offen lässt, weder für Kalorienbewusste, noch für Menschen mit gutem Appetit. Ein Medley unterschiedlicher Vorspeisen, Salate, aller nur vorstellbaren Sättigungsbeilagen, Gemüse, Fleisch und Fisch in jeder Form, Brot, Käse und selbstverständlich eine Dessertauswahl wird angeboten. Genuss pur, von wenigen Gramm bis zum Kilo.
Für die mittägliche Schlemmerei gewähren die brasilianischen Arbeitgeber ihren Mitarbeitern von einer bis zu eineinhalb Stunden pro Arbeitstag, erfuhr ich. In Deutschland ist man diesbezüglich nicht so großzügig. Wenn überhaupt lassen die Berufstätigen dort ihr protestantisches Arbeitsethos im Höchstfall für 30 Minuten pro Tag in der Schublade ihres Schreibtischs verschwinden.
Einen weiteren Vorteil genießt der brasilianische Arbeitnehmer: Sein Mittagessen wird vom Arbeitgeber subventioniert. Mit dem Ticket Restaurante, um nur einen Anbieter zu nennen, erhält der Mitarbeiter eine Art Kreditkarte, auf die der Arbeitgeber einen bestimmten Betrag, schätzungsweise R$ 10 pro Arbeitstag, einzahlt, von dem es sich der Arbeitnehmer schmecken lassen kann.

Dienstleister (Limpeza-Service)

Samstag, 21.05.11: Heike, eine gute Freundin, holt mich morgens um 8.20 Uhr im Hotel ab. Wir machen uns auf den Weg zu dem Apartment, das mein Mann und ich zwei Wochen zuvor angemietet hatten, in der Erwartung, dort, wie verabredet, den Limpeza Service anzutreffen, um die Detail der Grundreinigung zu klären.
Mein Mann und ich haben uns für einen „Altbau“ entschieden, ein 23 Jahre altes Haus, denn in den neuen Immobilien sind uns die Räume schlichtweg zu klein. So großzügig die Schnitte der älteren Apartments sind, so verwohnt sind sie leider meist auch.
Nach den Malern und dem Elektriker ist also für diesen Samstag Ende Mai der Reinigungsservice terminiert.

Es ist 9.15 Uhr und ich werde langsam unruhig, denn am Dienstag soll der Container kommen. Heike beruhigt mich und wir warten weiter.
Ab 9.30 Uhr versucht sie, das Reinigungsunternehmen zu kontaktieren, um den Verbleib der Reinigungscrew zu eruieren. Wir haben fünf Telefonnummer, zwei davon Mobilfunkanschlüsse, doch niemand hebt ab.
Um 10.15 Uhr schließlich bekommt Heike den Inhaber des Limpeza-Services auf seinem Handy. Es hätte einen Unfall gegeben, mit Personenschaden, berichtet Ewaldo. Das Fahrzeug befände sich auf der Marginal und Polizei sei inzwischen vor Ort. Heute wäre nichts mehr möglich.
Der Container käme am Dienstag, erklärt Heike und erkundigt sich, ob Ewaldo am Montag verlässlich eine Crew schicken könnte. Ja, das sei möglich, sagt der Unternehmer. Das Team könne bereits um 7.00 Uhr beginnen und er selbst sei mit vor Ort, um den reibungslosen Ablauf zu sichern. Wir könnten uns zu 100 Prozent auf sein Wort verlassen.
Montag, 23.05.11: Um 6.36 Uhr ich treffe im Apartment ein. Es wird 7.00 Uhr. Kein Limpeza-Service in Sicht.

Um 7.26 Uhr kontaktiere ich Heike, denn meine Nerven liegen blank. Undenkbar, dass der Container kommt, ohne eine vorherige Grundreinigung des Apartments. Unverzüglich beginnt Heike, einmal mehr, alle fünf Telefonnummern anzuwählen. Ohne Erfolg.
Gegen 9.15 Uhr erreicht sie einen Flavio, der erklärt, dass Ewaldo unterwegs sei, er aber nicht wisse, wo er sei. Mir ist ganz schlecht.
Inzwischen ist es 9.30 Uhr. Mein Mann ruft von seiner Geschäftsreise nach Deutschland an. Ich berichte, so nüchtern wie mir dies zu diesem Zeitpunkt noch möglich ist, über den Stand der Dinge. Er schlägt vor, seine Office-Managerin, der bestimmt etwas einfiele, zu kontaktieren. Ich rufe also, inzwischen völlig verzweifelt, bei Andrea an und schildere die Lage. Ich solle ihr 15 Minuten geben, sie würde sich dann wieder melden. Andrea meldet sich um 10.00 Uhr. Sie könne Conceição, die Empregada des Büros, für den heutigen Tag freistellen.
Ich mache mich also auf den Weg, eine Grundausstattung zur Reinigung der Wohnung zu kaufen, beginne mit dem Zubehör – Putzeimer, Besen, Handbesen, Kehrblech. Dann wird es schwierig. Einmal mehr an diesem Morgen rufe ich meine engste Freundin Tereza an, die in der Situation hilft, und sich, als sie die Verzweiflung in meiner Stimme hört, sofort in ein Taxi setzt.
Dann wechsele ich das Geschäft und beginne mit dem Einkauf der Produkte. Das ist kompliziert, denn außer Ajax sehe ich kein Produkt, das mir vertraut ist. Glücklicherweise arbeiten die Hersteller mit Abbildungen, was in Anbetracht meiner eingeschränkten Sprachkenntnisse sehr hilfreich ist.
Mit vielen Flaschen unterschiedlicher Putzmittel und dem entsprechenden Handwerkszeug kehre ich zurück zum Apartment.
Wenig später trifft Tereza ein. Minuten darauf kommt Heike mit Vilma, ihrer Empregada, die sie mir für diesen Tag zur Verfügung stellt. Schließlich stehen Andrea und Conceição in der Tür, die kurzerhand ihre Tochter Soraya und Nachbarin Eliane mitgebracht hat.
Es gibt wieder Hoffnung. Die hatte ich zwischendrin fast aufgegeben. Berührt von so viel Unterstützung und spontaner Hilfsbereitschaft kommen mir die Tränen. Und nicht nur mir.

Der öffentliche Nahverkehr (2)

Menschen stehen unmotiviert um einen mittelhohen Holzstab, eine Art Marterpfahl, versammelt. Was tun sie dort bloß? Plötzlich nähert sich ein Bus und einige der Versammelten heben ihren Arm. Der Bus hält und die Menschen drängen hinein.
Klar, der Pfahl ist eine Bushaltestelle, ohne Hinweis darauf, welcher Bus dort fährt oder wann er an der Haltestelle eintrifft.
Es wäre wahrlich zu einfach, wenn sich immer das gleiche Bild böte. Manchmal ist schlicht kein Holzpfahl zu finden. Bei genauer Betrachtung erschließt sich, dass die ein oder andere Haltestelle durch ein Metallschild gekennzeichnet ist, ebenfalls ohne jeden Hinweis zu den dort verkehrenden Bussen.
Auf großen Straßen, wie beispielsweise der Avenida Santo Amaro, findet sie sich schließlich, die nahezu konventionelle Haltestelle, denn der Reisende erfährt an den überdachten Metallunterständen zwar welcher Bus dort verkehrt und an welcher Plataforma (Haltestelle) er hält, doch lange noch nicht, wann er fährt. Wenn nicht eine digitale Anzeigentafel angebracht ist, auf der allerdings längst nicht alle Linien angezeigt werden. In São Paulo gibt es 971 Hauptbuslinien, wie auch immer sich diese definieren mögen. Berlin, im Vergleich dazu, verfügt tagsüber über 149 und nachts über 63 Buslinien.
Selbst wenn der Reisende an einer der modernen Haltestellen steht, birgt das Erreichen des Fahrziels einige Tücken. Im Minutentakt donnern die Busse durch die Avenida Santo Amaro. Auf der digitalen Anzeigentafel der Busse werden die Bussnummer und das Reiseziel angezeigt, meist unterbrochen durch die Angabe eines Haupthaltepunktes. Da ist schnelle Auffassungsgabe gefragt.
Auf der Einstiegsseite ist eine Metalltafel angebracht, auf der einige große Straßen, die auf der Route liegen, verzeichnet sind, mit Pfeilen nach oben und unten. Ohne eine gewisse Ortskenntnis steht der Reisende im Regen. Wenn er des Portugiesischen nicht mächtig ist, denn die brasilianischen Busfahrenden sind sehr hilfreich. Fragt ein Unkundiger, diskutieren sogleich alle an der Haltestelle Versammelten über die beste Route für den gestrandeten Reisenden.
Ist einmal der richtige Bus gefunden, gilt es weitere Herausforderungen zu bewältigen. In der Mitte des Busses thront der Cobrador (Fahrkartenverkäufer) an einem Drehkreuz, das jeder Passagier durchqueren muss, vor einer Kasse und einer kleinen Säule mit einem elektromagnetischen Erfassungsgerät. Hat man kein Kleingeld zur Hand – die Busfahrt kostet in der Regel drei Reais – bietet sich das Bilhete Único an, eine aufladbare Fahrkarte, die für alle SP Trans-Verkehrsmittel genutzt werden kann.
Weitere Hürden tun sich auf: Die Busse haben Ausstiege auf beiden Seiten. Der Reisende muss also wissen, ob seine Zielhaltestelle auf der rechten oder linken Ausstiegsseite liegt. Dies sollte er rechtzeitig bedenken, denn er muss gegebenenfalls größere Menschenansammlungen durchqueren, insbesondere während des Berufsverkehrs.
Ist der Bus leer, sieht sich der Passagier mit einem anderen Problem konfrontiert. Nur durch große Standfestigkeit und ein geschicktes Festhalten kann der Fahrgast vermeiden, durch den gesamten Bus geschleudert zu werden, denn die brasilianischen Busfahrer fahren, wenn der Verkehr dies erlaubt oder eine Busspur vorhanden ist, als würden sie an der Formel 1 teilnehmen. No risk, no fun: Busfahren in São Paulo ist ein echtes Erlebnis.

Der öffentliche Nahverkehr (1)

Es ist 18.00 Uhr, an einem Mittwoch im Februar 2011. Vor vier Tagen in der Stadt angekommen, sind meine Qualitäten als Stadtführerin gefragt: Mit einer Besucherin aus Deutschland stehe ich an der Station Hebraica-Rebouças, der türkisfarbenen Linie 9, die den wohlklingenden Namen Esmeralda trägt.
Einmal zuvor war ich bereits mit dieser Bahn gefahren und war überrascht, denn ich war vor der Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel in der Stadt gewarnt worden. Die seien schmutzig und vor allem gefährlich. Meine Wahrnehmung war eine gänzlich andere: Ich genoss die klimatisierten Züge, in denen mitnichten nur finstere Gestalten saßen.
Was geschah nun an diesem frühen Abend eines warmen Februartages? Voll war es auf dem Bahnsteig. Gefühlte Millionen von Fahrgästen drängten in die ohnehin schon vollen Waggons. Kräfte der Polícia Militar waren damit beschäftigt, ein möglichst problemloses Ein- Aussteigen zu gewährleisten. Sicherheitskräfte im öffentlichen Nahverkehr kennt man auch in Deutschland, doch gehören diese in der Regel privaten Sicherheitsdiensten an.
Todesmutig stützten wir uns nun ins Getümmel, denn wenig später stand ein Abendessen auf dem Programm, zu dem wir pünktlich erscheinen wollten.

Wir ließen uns treiben. Ich war zuversichtlich und beruhigte meine Begleiterin, dass wir sicher und rechtzeitig an unser Ziel gelangen würden. Körper an Körper standen wir nahezu eingekeilt in der Mitte des Waggons. An jeder Station stiegen mehr Menschen zu.
Ehe wir uns versahen, waren wir an der Estação Berrini angelangt. Nichts bewegte sich, bis weitere Passagiere hineindrängten. Wie nun herauskommen aus der Bahn? Weder meine Begleiterin, noch ich waren der Sprache mächtig. Wir schauten uns an. Mit sich nahezu überschlagender Stimme rief meine Begleiterin schließlich „Desculpa, desculpa“ und drängte in Richtung Tür. Ein Lachen breitete sich aus. Und das große Herz der Brasilianer siegte: Mit vereinten Kräften schoben uns die Mitreisenden aus dem Zug, den wir glücklich und erschöpft verließen.
Ein echter Anfängerfehler: Während der Rushhour sollte der flexible Fahrgast die Bahn meiden, denn die CPTM (Companhia Paulista de Trens Metropolitanos)transportiert auf ihren sechs Linien mit 93 Stationen täglich schätzungsweise zwei Millionen Fahrgäste auf ihrem 261,9 Kilometer langen Netz und die meisten von ihnen naturgemäß eben genau dann.