Freitag, 28. September 2012

55 é Henrique Madeira oder auch die Melodie von Alagoas

Fahnen säumten unseren Weg vom Guararapes International Airport in Recife, der Hauptstadt des Bundesstaates Pernambuco, bis nach Maragogi, unserem Reiseziel im benachbarten Alagoas. „Hier wird am 7. Oktober offensichtlich auch gewählt“, warf ich ein und setzte meinen Mann über mein durch die “Horário Político”, die politische Zeit, erworbenes Wissen ins Bild.
Mit Begeisterung sehe ich das “Programa eleitoral obrigatório”, die obligatorische Wahlsendung, die seit dem 21. August von Montag bis Samstag vor der Telenovela Avenida Brasil ausgestrahlt wird, denn die emotionsgeladenen Spots erinnern mich sehr an US-amerikanische Wahlwerbung. „Die Parteien, die den Kandidaten für das Amt des Bürgermeisters, den Preifeito, stellen, haben zweistellige Nummern. Fernando Haddad, der zur Partei von Dilma und Lula gehört, hat die 13, José Serra die 45, Celso Russomanno hat die 10 und Gabriel Chalita die 15. Die Nummern der Vereadores, der Stadtverordneten, sind sehr lang und haben bis zu fünf Stellen“, führte ich aus.
Dass in São Paulo in etwas über einer Woche gewählt wird, könnte dem Newcomer leicht entgehen, denn Fahnen, Plakate oder andere sichtbare Vehikel der Wahlwerbung sind hier nahezu nicht zu sehen. Ganz anders in Alagoas. „Schau mal dort, ein Karnevalsumzug“, zeigte mein Mann in die Ferne. Auf einem umgebauten Truck, der sehr an die eindrucksvollen Wagen, die wir zu Karneval im Sambódromo, dem Sambadrom, in São Paulo gesehen hatten, erinnerte, tanzten fahnenschwenkende Menschen ausgelassen zu eingängiger Musik. Begleitetet wurde das abenteuerlich anmutende Fahrzeug von jubelnden Fußgängern, hupenden Autos und Motorrädern. Ganz wie zu Karneval, nur dass hier für Henrique Madeira, die Nummer 55, den Bürgermeisterkandidaten von Maragogi geworben wurde. „Jeden Samstag und Sonntag finden Paraden für die einzelnen Kandidaten statt, die hier an der Pousada vorbeiziehen“, erklärte Sandrijn van Hoof, ein Holländer, der zusammen mit Fernanda Duarte, seiner aus Minas Gerais stammenden Ehefrau, die Praiagogi Boutique Pousada betreibt, die für die kommenden zehn Tag unsere Oase der Ruhe sein sollte, bei unserer Ankunft. „Auch während der Woche fahren die Wahlwerbe-Autos, wenn auch mit weniger Spektakel, auf dem Weg in den Nachbarort São Bento hier vorbei“, berichtete er weiter. Das kann ja heiter werden, dachte ich bei mir und haderte mit meiner Wahl. Im Internet hatte die Pousada so idyllisch gewirkt und nun lag ihre Rückseite vielleicht 50 Meter von der Straße entfernt, wenn auch abgeschottet durch tropische Vegetation.
Ich machte meinem Herzen Luft, als ich meine Mutter und meine Freundin, wie vereinbart, über unsere Ankunft informierte, während mein Mann bereits im Paradies angekommen war.
Spätestens zum Abendessen kam auch ich dort an, denn die hochgerühmte Küche entsprach den Berichten, die ich im Internet gelesen hatte, wenn sie diese nicht noch übertraf. Unsere charmanten, weltgewandten Gastgeber, die ihr Handwerk in Holland erlernt und sich dort ineinander verliebt hatten, eroberten mein Herz im Sturm. Und als wir nach dem exzellenten Abendessen auf einer der ausgesprochen bequemen breiten Liegen unmittelbar auf das tosende Meer blickten und die warme Nacht genossen, war alles Hadern vergessen.
Wahrhaft paradiesisch war auch das Frühstück. Gefragt, welcher Saft für uns zubereitet werden sollte, wählten wir jeden Tag die Überraschung und erlebten so unbekannte Genüsse. Von Graviola über Cajá und Caju bis zu Umbu-cajá reichte das Spektrum, das uns Magna, die rechte Hand der Inhaber, nicht ohne Stolz präsentierte. Gern legte sie auch schon einmal selbst Hand an und schlug Kokosnüsse von den reich behangenen Kokospalmen der Pousada. „Früchte aller Art habe ich schon als Kind gern gesammelt oder mit einer der Machete abgeschlagen“, erklärte sie mit strahlenden Augen.
Nachdem in der von Arbeit bestimmten Megacity hinsichtlich des Zeitbegriffs eine gewisse Lässigkeit herrscht, die uns anfangs durchaus zu schaffen gemacht hatte, erlebten wir in Alagoas, das von holländischen und portugiesischen Einwanderern geprägt wurde, eine für uns Paulistanos ungewohnte Pünktlichkeit. Um 12.38 Uhr sollten wir am Flughafen abgeholt werden, der Fahrer war pünktlich vor Ort. Zu unserer ersten Tour sollten wir um 09.30 Uhr aufbrechen, unsere Abholung war bereits um 09.20 Uhr da. Selbst diese erste Tour, die wir in einer größeren Gruppe unternahmen, ging um Schag 10.00 Uhr los. Alle, einfach alle, waren stets überpünktlich. Da könnte sich so mancher Paulistano eine Scheibe abschneiden.
Wir schwammen in badewannenwarmen, kristallklarem, leicht türkisfarbenem Wasser, schlenderten an kilometerlangen, verlassenen Sandstränden entlang und erkundeten Dörfer, die ursprünglicher nicht hätten sein können, erlebten zurückhaltende, warmherzige Menschen. Besonders fasziniert waren wir von Rafaela, der Cozinheira unserer Pousada, die in effizienter Anmut in der offenen Küche die wohlschmeckendsten Genüsse kreierte. Robson, unser Garçon, entwickelte sich zur wohl größten Überraschung. Anfangs extrem umständlich und im Umgang mit uns Alemaos völlig verunsichert, entspannte sich der junge Mann von einem zum anderen Tag sichtlich. „Er muss verliebt sein“, kam mir in den Sinn. „Anders kann man sich diese plötzliche Veränderung auch nicht erklären“, sinnierte mein Mann. „Oder er hat kurz vor unserer Ankunft angefangen und bekommt langsam etwas Routine“, sagte er dann. Am zehnten, unserem letzten Abend übertraf sich der schüchterne Robson geradezu, als er, der Gastgeber des Abends, sich persönlich und verbindlich von uns verabschiedete.
Wir spürten auch die Leidenschaft der Alagoanos, denn auf dem Markt von Maragogi, knapp über zwei Kilometer von unserer Pousada entfernt, wurden von Früchten und Fischen, die wir nie zuvor gesehen hatten, bis zu lebenden Hühnern engagiert allerlei Waren angeboten. Übertönt wurden die Händler von Henrique Madeira, der Nummer 55, denn junge Männer fuhren auf mit überdimensionalen Lautsprechern ausgestatteten Fahrrädern, um Verkäufer und Kaufende über den besten Bürgermeisterkandidaten zu informieren. Zwischendrin etwa hüfthohe selbstgebaute ebenfalls mit Boxen versehene Spielzeugtrucks, die in gleicher Mission unterwegs waren. Henrique Madeira begleitete uns bis zur Grenze Pernambucos, ja eigentlich bis nach São Paulo, denn noch heute singen wir die eingängige Melodie des Wahlkämpfers, die für uns immer auch die Melodie von Alagoas bleiben wird.

Freitag, 7. September 2012

Barra do Una oder eine Meisterköchin kann überall kochen

„Möchtet Ihr uns am Wochenende zum Grillen am Strand begleiten?“, fragte die Meisterköchin freudig, die, wie sich herausstellte, nicht etwa an die Sonnenexposition unserer winterblassen teutonischen Körper, sondern vielmehr an die gemeinschaftliche Zubereitung köstlichen Grillguts an einem nahegelegenen Strand dachte.
Das klang nach Abenteuer. Ich würde mit meinem Mann über diese außergewöhnliche Einladung sprechen und mich dann wieder melden, erklärte ich.
„Ein guter Plan“, sagte der begeistert, „lass uns das machen. Biete doch den beiden an, dass ich das Fahren übernehme, denn darüber hinaus können wir aufgrund fehlender Ausstattung nicht wirklich etwas beitragen“, erklärte er weiter. Gesagt, getan. Ich verabredete mit der Meisterköchin, dass wir sie und ihren Mann am darauffolgenden Samstag um 8.00 Uhr abholen würden. Um diese Zeit sollten wir, ohne größerem Verkehrschaos ausgeliefert zu sein, problemlos zur Litoral Norte gelangen.
Wir waren im vergangenen November schon einmal in Barra do Una, an dieser bezaubernden Küste, gewesen, unglücklicherweise um einen Feiertag herum, was wir insbesondere am Rückreisetag, dem Tag der Proclamação da República, dem Ausrufen der Republik, sehr bereuten, denn die Orte an der Küstenstraße BR 101 sind für die Paulistanos das Naherholungsgebiet Nr. 1. Nun würden wir eine Woche vor dem Dia da Independência Brasil, dem Unabhängigkeitstag Brasiliens, fahren und zwar zeitig am Morgen.
Wir sollten in die Tiefgarage fahren, hatte die Meisterköchin vorgeschlagen, damit wir alles problemlos einladen könnten. Ein kluge Idee, denn allein das Volumen der zu befördernde Ausrüstung war beachtlich. Zwei große Klappstühle, zwei in Schultertaschen verstaute Campingstühle, einen großen Sonnenschirm, der, wie wir erfuhren, auch als Regenschirm gute Dienste leistet, einen Tisch, einen raffiniert verpackten Grill, eine prall gefüllte Faltbox, eine zweite Strand- und eine Kühltasche galt es, in unserem Auto unterzubringen. Wären die in den Kofferraum ragenden Lautsprecher nicht gewesen, hätte der erste Beladungsversuch glücken können. Doch genau die knapp zehn Zentimeter, die die Boxen beanspruchten, fehlten uns. Eine neue Strategie, mit der Kühltruhe in der Mitte der Rückbank, führte schließlich zum Erfolg. Nun könnte es losgehen.
Mein Mann drehte den Zündschlüssel. Nichts geschah. Er probierte es erneut. Wieder nichts. Das darf nicht wahr sein, dachte ich in diesem Moment. Nun sitzen wir in diesem gerade mühlevoll gepackten Auto und es sieht ganz danach aus, als wäre das Abenteuer vorbei, noch bevor es wirklich begonnen hat.
Kurzerhand öffnete der Mann der Meisterköchin sein eigenes Auto, fuhr vor und verband das Starthilfekabel mit unserer Batterie. Wenn sich unser Auto starten ließe, wäre die Batterie durch die längere Strecke wieder aufgeladen. Sekunden später surrte der Motor wieder gleichmäßig. Das hätte auch anders ausgehen können.
Nach rund zwei Stunden hatten wir unser Ziel erreicht, zugegeben nicht ganz ohne Probleme, denn das Navigationssystem bescherte ob des von mir falsch erinnerten Ortsnamens Barra da Una keinen Treffer. Ich schlug vor, Bertioga einzugeben. Von dort aus würde ich den Weg finden.
Bertioga lag inzwischen hinter uns, ohne dass wir ein Hinweisschild für Barra do Una gesehen hatten. Mein Mann wurde unruhig. Ob es dort am Strand ein WC gäbe, wollten die Mitreisenden wissen. Soweit ich mich erinnerte, gäbe es eines, erklärte ich, woraufhin mein Mann Zweifel anmeldete. Wenn ich bezüglich der Existenz des WCs so sicher sei wie mit der Einschätzung, dass unser Ort sofort hinter Bertigo läge, dann stünde einiges zu befürchten. Kaum waren diese Worte ausgesprochen, tauchte am rechten Straßenrand das Hinweisschild für Barra do Una auf. Noch 19 Kilometer. Da muss ein WC-Häuschen gewesen sein, dachte ich bei mir.
Innerhalb des Ortes dirigierte ich meinen Mann souverän an unser Ziel. Wie die anwesenden Herren vermuteten – und sich später herausstellten sollte – hätte es einen direkteren Weg gegeben, doch ich entschied mich für die bekannte Route. Sicher ist sicher.
Wir parkten an der Kirche und liefen in Richtung Strand. Dreißig Meter müssten wir zurücklegen, hatte ich geschätzt. Während wir unseren Erkundungsspaziergang unternahmen, wurde mir allerdings sofort klar, dass ich mich wohl etwas verschätzt hatte. Richtig gelegen hatte ich aber in der Beschreibung des malerischen, in einer Bucht gelegenen Strandes.
Die Mitreisenden nahmen es sportlich, auch, dass sich das WC nicht unmittelbar am Strand, sondern in einem Kolonialwarengeschäft an der Kirche befand. Nun müsse die Ausrüstung etwas weiter getragen werden und so weit sei das WC nun auch nicht entfernt.
Kaum waren Tisch, Stühle und Sonnenschirm aufgebaut, wurde die vorbereitete Vorspeise serviert: Zwei Sorten Nachos mit Guacamole und Hummus. Die Getränke dazu wurden in silbernen Bechern gereicht.
Das Hauptgericht und dessen Zubereitung präsentierten sich als echtes Erlebnis. Nachdem der kleine Gasgrill in Betrieb genommen war, wurde die Wokpfanne positioniert. Als das Olivenöl erhitzt war, wurden Zwiebeln, Knoblauch, Ingwer, zerkleinerte Chilischoten und Curry hinzugegeben. Darauf folgten Möhren, Kohlstreifen, Zucchini und Erbsenschoten. Ganz gegen ihre Gewohnheit hatte die Meisterköchin das Fleisch, mariniertes kleingeschnittenes Pernil (Schweinkeule), das anschließend in den Wok gegeben wurde, fertig zubereitet auf dem Markt erstanden. Vor dem Würzen mit Salz, einer zweiten Prise Curry und Sojasauce, kamen nun Sojasprossen hinzu. Fertig. Wir verspeisten das asiatische Gericht auf Porzellantellern, stilecht mit reich verzierten Stäbchen.
Die Meisterköchin hatte wirklich an alles gedacht. Nach dem Essen wurde die original römische Espressomaschine Maschine in Betrieb genommen. Italienischer Espresso und amerikanische Cookies rundeten das kulinarische Erlebnis vor atemberaubender Kulisse ab.