Freitag, 28. Dezember 2012

Wissenschaft Réveillon

„In Brasilien gibt es viele Silvesterbräuche“, hatte meine Freundin Tereza vor dem zurückliegenden Jahreswechsel berichtet. „Ich bin ganz sicher, dass Ihr auch im Terraço Itália mit dem ein oder anderen Brauch in Berührung kommen werden“, hatte sie ausgeführt. Schließlich hatte sie mir einen kurzen Überblick gegeben und ich versuchte, die Vielzahl an Silvester-Ritualen aufzunehmen und zu speichern, was mir in der Gänze allerdings nicht gelang.
Einige „Handlungen“ glaubte ich tatsächlich im Rahmen unseres Silvester-Events bemerkt zu haben. In diesem Jahr wollte ich mehr wissen und studierte zahlreiche Quellen. Mein Ergebnis: Réveillon in Brasilien ist eine echte Wissenschaft.
Speisen, die Glück bringen
Der Verzehr eines Esslöffels Linsen (lentilhas) genügt, um Geld im Überfluss beziehungsweise Wohlstand anzuziehen. Damit dies auch wirklich funktioniert, sollte dieser Glückslöffel Hülsenfrüchte die erste Nahrung sein, die im Rahmen des nächtlichen Imbiss konsumiert wird.
Auch Trauben (uva) wird eine große Kraft bescheinigt. Manche essen Trauben, andere deren Kerne. Üblich ist es, elf oder zwölf davon bis zum kommenden Jahreswechsel in der Geldbörse aufzubewahren, um sicherzustellen, dass stets genug Geld darin ist. Mancher platziert dort zusätzlich oder stattdessen ein Lorbeerblatt, das ebenfalls als Glücksgarant gilt.
Nicht ausschließlich als Symbol für Wohlstand steht der Granatapfel (romã). Auch die Fruchtbarkeit soll dieser positiv beeinflussen. Wieder ist die Anzahl der Kerne entscheidend. Je mehr, desto besser. Und wieder etwas für die Geldbörse – kein Wunder, dass die in Brasilien in der Regel deutlich größer ausfällt als beispielsweise in Deutschland: Sieben Kerne – hier kommt die heilige Zahl zum Einsatz – sollten dort für ein Jahr aufbewahrt werden. Sollte damit auch das große Portemonnaie zu platzen drohen, hilft ein weiterer Silvesterglaube, der anrät, einen Geldschein im Schuh zu verstauen. Die Energie betrete den Körper, laut einer entlehnten orientalischen Weisheit, durch die Füße. Dementsprechend würde Geld im Schuh mehr und mehr Reichtum bringen.
Zu Silvester ist Truthahn (peru), anders als zu Weihnachten, absolut tabu. Ebenso der Genuss jeder anderen Form von Geflügel (aves). Auch Krebse (caranguejo) sollten gemieden werden, denn all diese Tiere haben die Angewohnheit, sich bei der Nahrungssuche rückwärts zu bewegen. Entsprechend wird angenommen, dass sich das Leben desjenigen, der sie verzehrt, nicht nur nicht weiter, sondern gar zurückentwickelt.
Schwein (porco) beziehungsweise Spanferkel (leitão) gilt als “portador da sorte”, als Glücksträger, und Wohlstandsbringer. Das Tier, das seine Schnauze stets nach vorn streckt, sollte das Silvesterhauptgericht sein. So wird sich auch das Leben des Schweineessers positiv nach vorn entwickeln. Eine Quelle behauptet gar, dass mit dem Verzehr des Glücksschweins die Schränke das gesamte Jahr über reich gefüllt seien.
Maßnahmen zur Glücksmaximierung
Durch die magischen Speisen frisch gestärkt, kann die Party beginnen. Denn dem persönlichen Glück kann jeder Einzelne nach Mitternacht weiter auf die Sprünge helfen, unabhängig davon wo gefeiert wird.
Wer das neue Jahr auf dem rechten Fuß beginnt, der zieht gute Entwicklungen für sein Leben an. Zur Legitimation dieses Aberglaubens wird sogar die Bibel herangezogen, nach der, so das Almanach der Silvesterbräuche, alles, was rechts sei, gut sei. Wie dem auch sei: Konzentration erfordert die Erfüllung dieses Glücksregel ganz bestimmt.
Mit einem Glas Sekt oder Champagner in der Hand drei Mal in die Höhe zu hüpfen, ohne auch nur einen Tropfen zu verschütten, verlangt ein hohes Maß an Geschicklichkeit. Anschließend gilt es, das Getränk mit Schwung und ohne Unterbrechung hinter sich zu schütten, ohne hinzusehen. Auf diese Weise lässt derjenige, der dieses Spiel absolviert, alles Schlechte hinter sich. Nur keine Sorge, falls die Schaumweindusche andere Umstehende benetzt, denn denen ist, ohne dass sie auch nur etwas tun, Glück durch das gesamte kommende Jahr hinweg garantiert.
Auch beliebt ist es, nach Mitternacht auf einen Stuhl oder eine andere Erhöhung zu steigen. Diese Aktivität, so die Überlieferung, gebe den Impuls dazu, auch im Leben weiterkommen zu können. Klar, dass der Aufstieg nur mit dem rechten Fuß funktioniert.
Wer, wie viele Brasilianer, den Jahreswechsel, der mitten in die „Sommerferien“ fällt, am Strand feiert, ist dazu aufgerufen, dort Kerzen für Iemanjá, ein Göttin der Candomblé, einer afro-brasilianischen Religion, anzuzünden. Auch wer Rosen auf das Meer, dessen Herrscherin Iemanjá ist, wirf, tritt mit ihr in Interaktion. Und das lohnt sich, denn sie beschützt diejenigen, die an sie glauben, schenkt ihnen Gesundheit, Liebe und Geld während der gesamten Jahres.
Ein weiteres Ritual stammt ebenfalls aus der Candomblé: Es gilt, die sieben Wellen des Meeres zu überspringen. Hier wird einmal mehr die heilige Zahl bemüht, die im Candomblé durch Exu, den Sohn Iemanjás, repräsentiert wird. Die sieben Sprünge dienen dazu, dem Glück die Wege zu öffnen – in der Gewissheit, dass dies in der Zukunft garantiert ist. Niemals sollte man dem Meer den Rücken zuwenden. Das wäre schließlich einer Gottheit gegenüber äußerst respektlos.
“Não adianta negar, todo brasileiro é um pouco supersticioso” (Es ist nicht abzustreiten, dass alle Brasilianer ein wenig abergläubisch sind)
Der Hang zum Aberglauben manifestiere sich, laut der Journalistin und Bloggerin Camila Bertolazzi, insbesondere zu Silvester.
eCGlobalnet, ein globales Netzwerk, das registrierten Nutzer die Möglichkeit eröffnet, unmittelbar mit Unternehmen, Marken und Dienstleistern zu interagieren und auf diese Weise Entscheidungen am Markt mitzugestalten, hat das Phänomen untersucht.
Wie verbreitet der Aberglaube in Brasilien tatsächlich ist, wollte das Netzwerk herausfinden und führte im Dezember 2012 eine Befragung durch: Ganze 52 Prozent, also über die Hälfte der Brasilianer, gaben an, an diverse “superstições” glauben. 35 Prozent, so fand man heraus, sind von der Wirksamkeit der zu bestimmten Zeiten praktizierten Rituale überzeugt.
Ein klares Ergebnis, das mich nach 20 Monaten Brasilien und einem hier erlebten Silvester nicht wirklich verblüfft, sondern eher amüsiert. Unfassbar zu welch absurden Handlungen Menschen bereit sind, um Reichtum und Glück „herbeizuzaubern“.
Als ich meinem Mann erheitert von meinen Recherchen erzählte, war der ganz fassungslos: „Ist klar, 1000 Kerne im Portemonnaie tragen – in der Hoffnung darauf, dass die den ganz großen Geldsegen bringen. Wie wär’s denn mal mit Arbeit!“
P.S.: Allen Leserinnen und Lesern wünsche ich ein gutes Jahr 2013 oder ein Próspero AnoNovo.

Freitag, 21. Dezember 2012

Was sich Brasilianer von Papai Noel wünschen würden oder wie zwei Deutsche sich auf Weihnachten in der Megacity vorbereiten

Kleidung, Spielzeug, Schuhe, Accessoires, Kosmetik und Parfums: Dies sind laut einer aktuellen Umfrage von CONECTAí, zuständig für Internetbefragungen bei IBOPE Inteligência, die in diesem Jahr meistgekauften Geschenke brasilianischer Internet-Nutzer.
63 Prozent der Befragten schenken Kleidung, Spielzeug hingegen nur 41 Prozent. 38 Prozent erwerben Schuhe, 35 Prozent entscheiden sich für Accessoires wie Taschen oder Schmuck und 32 Prozent kaufen Kosmetik oder Parfums.
Laut der Umfrage werden 53 Prozent der Geschenke für die Eltern gekauft. 49 Prozent der Präsente sind für Frau/Mann oder Freund/Freundin vorgesehen. Kinder beschenken 36 Prozent der Befragten. 33 Prozent erwerben Geschenke für die Geschwister. Ebenfalls 33 Prozent geben an, sich selbst zu beschenken. Doppelnennungen jeweils mit eingeschlossen.
Um Weihnachten angemessen zu feiern, würden die Befragten auf drei Nahrungsmittel in keinem Fall verzichten: Die Spitzenposition nimmt mit 56 Prozent der Panettone, von italienischen Einwanderern Ende der 1940er nach Brasilien gebracht, ein. Wie in den USA steht auch der Truthahn hoch im Kurs, ohne den für 47 Prozent der Befragten ein gelungenes Weihnachtsfest undenkbar ist. Trockenfrüchte, zu denen auch Walnüsse, Mandeln und Haselnüsse gezählt werden, sind für 32 Prozent unverzichtbar.
Die Getränke-Hitliste wird von Wein angeführt (35 Prozent), gefolgt von Sekt und Erfrischungsgetränken mit jeweils 22 Prozent.
Durchschnittlich bis zum achten Lebensjahr (8,5 Jahre) gaben die Befragten an, an die Existenz des Weihnachtsmanns als guten alten Mann, der die Geschenke bringt, geglaubt zu haben. Könnten sie sich heute etwas vom Weihnachtsmann wünschen, wäre dies, zumindest bei 33 Prozent der 2.292 Teilnehmer der CONECTAí-Befragung, ein höheres Gehalt. Weitere 15 Prozent sollte der Weihnachtsmann eine Beförderung bringen und 14 Prozent erträumen sich eine Gewinnbeteiligung an ihrem Unternehmen.
Auch im Hinblick auf den Ort, an dem sie das Weihnachtsfest verbringen, haben die Befragten einen Traum: New York wäre für 21 Prozent die perfekte Location. 14 Prozent würden gern nach Paris und 8 Prozent nach Jerusalem reisen.
Gefragt, ob sie sich in dieser Zeit des Jahres an sozialen Projekten beteiligten, antworteten 36 Prozent, dass sie dies bislang nie getan hätten. 26 Prozent hingegen gaben an, immer sozial engagiert zu sein. Weitere 38 Prozent beabsichtigen, dies in der Zukunft zu tun und gaben damit eine typische Weihnachtsantwort.
Gut auf Weihnachten vorbereitet sind sie, die brasilianischen Befragten, mit klaren Vorstellungen, wie das Fest verlaufen soll. Wie es um uns steht, nicht einmal eine Woche vor unserem ersten Weihnachten in Brasilien?
Ob ich CDs mit Weihnachtsmusik hätte, hatte mein Mann unvermittelt während des vergangenen Sonntagsfrühstücks gefragt. Stimmt, was wäre Weihnachten ohne Weihnachtsmusik? Drei einzelne und eine Doppel-CD hatte ich zu bieten – von schmalzigem Weihnachts-Pop, über amerikanische Weihnachtsklassiker bis hin zu einigen eher schauderhaften Aufnahmen deutscher Weihnachtslieder, die ich einmal als Beigabe zu einer Frauenzeitschrift erhalten hatte, reichte das Spektrum. Die Wahl fiel auf “Ultimate Christmas: Gold Collection”, die Doppel-CD, die mein Mann sogleich digitalisierte. Ein Anfang. Wie gut, dass es iTunes gibt, denn ein Weihnachten so ganz ohne das Weihnachtsoratorium von Bach, den Weihnachts-Soundtrack meiner Familie, kann ich mir schwer vorstellen.
„Ein Plastikbaum kommt mir nicht ins Haus, ebenso wenig wie einer dieser getrimmten Friedhofsbüsche“, erklärte mein Mann bestimmt, als ich das Thema Deko ins Gespräch brachte. Girlanden, so erfuhr ich weiter, seien für ihn ebenfalls ein No-Go.
Zwei Mal hatte ich Weihnachten in den USA verbracht, unter dem Plastikbaum, der am Abend gar nicht einmal schlecht ausgesehen hatte. Doch bei Tageslicht betrachtet, kann auch ich darauf verzichten.
Mit den „Friedhofsbüschen“, bei denen es sich in Wahrheit um die immergrünen Lebensbäume (Thuja) handelt, hatte ich kurzfristig geliebäugelt, wobei ich mich verbissen gefragt hatte, wie man diese kleinen, dicht gewachsenen Bäumchen sinnvoll schmücken kann. „Wir haben doch die drei Weihnachtsbäume aus dem letzten Jahr“, warf mein Mann ein, und meinte damit die geschmackvollen Holzweihnachtsbäume, die ich im vergangenen Jahr auf dem Weihnachtsbasar des Lar Girassol, eines Kinderheims, erstanden hatte. Nur dass diese mit einer Höhe zwischen dreizehn und 20 Zentimetern die Kriterien eines klassischen Weihnachtsbaums nicht wirklich erfüllten.
Ich sichtete unsere jeweiligen Weihnachtskisten und fand eine große Anzahl von Kugeln in den unterschiedlichsten Farben, von matt bis glänzend. Die sieben in Mattgold gehaltenen kunstvollen Korbkugeln und die grellfarbigen MOMA-Designerkugeln meines Mannes sinnvoll in mein Deko-Konzept zu integrieren, wäre sicher die größte Herausforderung.
Kurz hatte ich in Erwägung gezogen, unsere Rhapis excelsa, eine Palmenart, mit farblich aufeinander abgestimmten Kugeln zu behängen, bis ich ganz hinten im Schrank eine rechteckige, metallene Schale mit herausragenden Adventskerzenhaltern entdeckt. Die könnte ich mit Weihnachtskugeln füllen. Mit Kerzen bestückt, könnte dieses Arrangement einen Weihnachtsbaum ersetzen.
Unterschiedliche rote Kugeln würden eine moderne Glasvase zum Weihnachtsobjekt machen. Die übrigen Weihnachtsornamente ordnete ich kunstvoll auf einem langen Halbregal und einem Tisch an. Drei weitere Elemente fügte ich ein und fertig war die Weihnachtsdekoration “Megacity”.
Nun kann Weihnachten kommen, denn ganz gegen meine Gewohnheit hatte ich das Weihnachtsshopping bereits im November, zusammen mit meiner Mutter, in Deutschland erledigt.
Die Geschenke für meinen Mann, auf die ich aus nachvollziehbaren Gründen nicht näher eingehen kann, liegen, weihnachtlich verpackt, bereit. Soviel kann ich allerdings verraten: Keines der Top-Geschenke brasilianischer Internetnutzer befindet sich darunter.
Auch kulinarisch werden wir andere Wege gehen, als die von CONECTAí Befragten. Wir haben uns für unseren Klassiker, den St. Peter Fisch, mit Gemüse und Kartoffeln entschieden. Auf Panettone werden wir zu Weihnachten wohl verzichten, denn den haben nach der Firmenweihnachtsfeier bereits in größeren Mengen genossen.
Die Weihnachtsgestaltung wird ebenfalls wenig landestypisch ausfallen, denn nach dem Weihnachtsessen am frühen Nachmittag werden wir gegen kurz nach 17.00 Uhr zur Christmette in der katholischen St. Bonifatius-Kirche aufbrechen. Währenddessen können Papai Noel, der Weihnachtsmann, oder das Christkind ihres Amtes walten. Wir sind gespannt!
P.S.: Frohe Weihnachten oder auch Feliz Natal wünsche ich allen Leserinnen und Lesern.

Freitag, 14. Dezember 2012

Ein Geschenk für Brenda: “Campanha Papai Noel dos Correios”

Jedes Jahr zu Weihnachten können Kinder weltweit ihre Weihnachtswünsche per Post auf den Weg bringen. In Finnland nimmt die beispielsweise Santa’s Main Post Office in Napapiiri am Polarkreis entgegen. Russische Kinder können sich mit ihren Anliegen vertrauensvoll an Väterchen Frost in Weliki Ustjug, im äußersten Nordosten der Oblast Wologda, wenden.
In Deutschland haben Kinder gar die Wahl: Sie können ihre Wünsche an den Nikolaus in 49681 Nikolausdorf oder 66351 St. Nikolaus schicken, sie an den Weihnachtsmann in 16798 Himmelpfort, 21709 Himmelpforten oder 31137 Himmelsthür richten oder sie gleich an das Christkind adressieren, das ihre Briefe in 97267 Himmelstadt und 51777 Engelskirchen gegen Rückporto beantwortet.
Die Einsendung von Postwertzeichen ist in Brasilien nicht erforderlich. Hier können Kinder ihre Wunschzettel einfach in den Agências de Correios (AC), den Postämtern, abgeben.Anders als in Deutschland können sich Kinder aus sozial schwachen Familien, wenn ihr Wunschzettel einen Paten findet, sogar über ein Weihnachtsgeschenk freuen.
Über meine Freundin Tereza hatte ich schon 2011, in meinem ersten Jahr, von derCampanha Papai Noel dos Correios”, der Weihnachtsmann-Kampagne der Post, erfahren. Sie hatte mir von einigen rührenden Briefen berichtet, die sie in den vergangenen Jahren gelesen und als Geschenk-Patin adoptiert hatte. Wenn ich etwas mehr Portugiesisch spräche, würde mir die Kampagne sicher viel Freude bereiten, hatte sie erklärt.
In den vergangenen Tagen nun kamen mir Terezas Worte wieder in den Sinn und ich machte mich an die Recherche. Die diesjährige Kampagne, so entnahm ich der Website der Correios, hatte bereits am 14. November begonnen und würde am 14. Dezember enden. Wollte ich teilnehmen, war Eile geboten.
Ganz in meiner Nähe fand ich diverse Agências de Correios, bei denen ich die Wunschzettel der Kinder lesen könnte. Ich entschied mich für die AC SHOPPING CENTER IBIRAPUERA, denn dort würde ich praktischerweise sofort das Wunschgeschenk kaufen können.
Als ich das Postamt betrat, wies auf den ersten Blick nichts auf die Weihnachts-Aktion hin. Ich sah mich um und entdeckte schließlich ein eher unscheinbares DIN-A4-Plakat mit Informationen zur Dauer der Kampagne, was mir nicht wirklich weiterhalf. Also zog ich eine senha, eine Wartemarke, um am Schalter mehr über die Teilnahme zu erfahren.
Die Postmitarbeiterin strahlte, als ich sie über mein Anliegen informierte, und wies auf eine Dame im Wartebereich, die gerade dabei war, die Briefe der Kinder zu lesen. Ich solle mich einfach dazusetzen und mir von der Dame die Briefe, die sie bereits gelesen hatte, geben lassen. Gesagt, getan.
Ich war berührt von dem, was ich las, denn die Kinder berichteten offenherzig über ihr Leben, ihre Familiensituation, ihre großen und kleinen Träume und Wünsche. Nicht immer war die Kinderschrift leicht zu entziffern. Auch fehlte mir die ein- oder andere Vokabel, so auch in dem Brief, der mich am meisten bewegt.
Brenda, sechs Jahre alt, berichtete Papai Noel, dem Weihnachtsmann, dass sie mit ihrer Mutter und ihren drei Geschwistern lebe. Sie sei in der 1ª série, was, wie ich später erfuhr, bedeutete, dass sie die erste Klasse besucht. Ihr Vater, so schrieb sie, sei in Bahia, im Nordosten Brasiliens. Er sei mit einer anderen Frau weggegangen. Mit ihrer Mutter, so berichtete das kleine Mädchen weiter, verkaufe sie (für den Lebensunterhalt) Kuchen auf dem Wochenmarkt. Sie freue sich sehr auf Weihnachten und brenne darauf, ihm, dem Weihnachtsmann, von ihren Träumen zu schreiben, denn sie wünsche sich sehnlichst “Patins da Barbie”. All ihre Freundinnen hätten die – nur sie nicht. Auch würde sie sich über eine “Roupa da Barbie” freuen. Die Nummer sei 6 (oder hieß das 8) für Kleidung und 30 oder 31 für Schuhe.
Brenda wünschte sich also irgendetwas aus der Barbie-Welt. Das sollte zu machen sein. Was genau sie sich wünschte, würde ich sicher im Spielzeuggeschäft erfahren, das ich, nachdem ich mich als Patin für Brendas Brief hatte registrieren lassen, mit dem Brief bewaffnet, aufsuchte.
“Patins da Barbie não tem”, erklärte die Verkäuferin abschlägig. Was das denn sei, fragte ich die junge Frau, die mir dies sogleich wortreich zu erklären versuchte. Als sie allerdings realisierte, dass ich ihr nicht folgen konnte, zeigte sie auf einen Roller, ein Patinete, das sei etwas Ähnliches. Ob ich denn Patins, was auch immer dies genau sei, bis morgen bestellen könnte, wollte ich wissen. Das ginge so schnell leider nicht, erklärte sie, doch man habe viele Barbie-Artikel, die sie mir gern zeigen könnte.
Wir tauchten also ein in die Barbie-Welt, die mir fremd ist. Nur nicht über das Frauenbild, das die Marke kommuniziert, nachdenken, ging es mir durch den Kopf. Es galt, eine eilige Mission zu erfüllen.
Ich war begeistert, als ich nach einiger Zeit tatsächlich eine vollständig bekleidete Barbie-Mutter sah, die mit ihrem Kind in der Barbie-Küche Kuchen zubereitet – ganz wie Brenda dies vermutlich mit ihrer Mutter tut. Ich kaufte das deutlich reduzierte Ensemble und verließ das Geschäft. Vielleicht hätte ich ein Wörterbuch mitnehmen sollen, zumal mir das Vokabular von Kindern, unabhängig von der jeweiligen Sprache, nicht wirklich geläufig ist.
Vor der Tür traf ich die Frau, mit der ich im Postamt die Briefe der Kinder gelesen hatte. Wie gut, denn sie könnte mir vielleicht die Vokabel Patins umschreiben. Die sympathische Frau lächelte, deutete auf ihre Schuhe und machte eine sportive Bewegung. Roller – Schuhe – Rollschuhe wünschte sich Brenda also. Darauf wäre ich nie gekommen.
Nachdem mir die Spielzeugverkäuferin zuvor erklärt hatte, dass sich Brenda außerdem mitnichten Kleidung für eine Barbie, sondern für sich selbst gewünscht hätte, machte ich mich auf zu Lojas Americanas, einem mit Woolworth vergleichbaren Kaufhaus.
Ich durchforstete das Sortiment, ohne Erfolg, und fragte schließlich eine Verkäuferin, die mir mitteilte, dass das Geschäft keine Barbie-Kleidung führe. Während ich ratlos da stand, sprach mich eine nette, mütterlich wirkende Frau an, die mir erklärte, dass C & A eine große Auswahl an Barbie-Kleidung hätte. Mütter wissen eben Bescheid.
Im Herausgehen traf ich erneut auf meine Postbekanntschaft, die ein imposantes Skateboard trug. Nun, so erklärte sie, würde sie noch etwas Kleidung kaufen. Das würde ich jetzt auch tun.
Dass es ein so riesiges Sortiment an Barbie-Kleidung gibt, verblüffte mich. Wäre da nicht ihr Stil. Dem Lolita-Look würde ich bestimmt keinen Vorschub leisten. Ich wählte Shorts, die wirklich anzogen wirken würden und fand ein T-Shirt, das meinen Kriterien genügte. Nur war ich mir hinsichtlich der Größe nicht ganz sicher, denn ob Brenda eine Größe sechs oder acht trägt, war nicht eindeutig zu entziffern. Die Verkäuferin, der ich meine generellen Bedenken im Hinblick auf Barbie-Kleidung mitteilte, votierte für Größe acht, denn die würde etwas lockerer und eben nicht hauteng sitzen. Wir komplettierten das Outfit und ich ging zur Kasse, wo ich erneut mit einer Frau ins Gespräch kam, die ganz und gar begeistert war, als sie meine Auswahl sah.
Kinder (offensichtlich auch Kinderkleidung) und Hunde bieten tolle Gesprächsmöglichkeiten, hört man immer wieder. Dass dem wirklich so ist, konnte ich an diesem Tag feststellen.
Zuhause tauschte ich mich mit Tereza über meine Erfahrungen aus. Ich sollte die Geschenke in “papel Kraft”, in Packpapier, einschlagen. So würden sie heil bei Brenda eintreffen.
Ob sie Grüße beigefügt hätte, wollte ich wissen. In einem Fall, als ein Junge sich ein Buch, das ihr in ihrer Kindheit viel bedeutete, gewünscht habe, habe sie einige persönliche Worte an den Jungen gerichtet. Doch dies sei eine große Ausnahme gewesen, denn die Aktion sei zum Schutz der Kinder anonym. Brenda sei erst sechs Jahre alt. Unter Umständen glaube sie noch an den Weihnachtsmann. Ich sollte also lediglich die Aufkleber und das Paket mit ihrem Namen und dem Código da Carta, dem Registrierungscode, versehen und als Absender Papai Noel angeben.
Ich bin diesen Hinweisen gefolgt und habe das Paket heute im Postamt abgegeben, ohne Porto dafür zahlen zu müssen. Feliz Natal, Brenda.
Hintergrund:
Vor 23 Jahren hatten brasilianische Post-Mitarbeiter spontan damit begonnen, Wunschzettel zu Weihnachten entgegenzunehmen und zu beantworten. Nach einigen Jahren wurde diese Privatinitiative zum Unternehmensprojekt, das seit 1997 in allen 26 Bundessstaaten und dem Bundesdistrikt (Brasilia) durchgeführt wird. Alle an den Weihnachtsmann gerichteten Briefe zu beantworten, ist, nach Angaben der Correios, das Hauptziel der “Campanha Papai Noel dos Correios”.
Seit 2010 sind die Bildungsministerien der jeweiligen Bundesstaaten Partner der Kampagne, die öffentliche Schulen, Kinderkrippen und -heime in sozialen Brennpunkten in das Weihnachtsprojekt einbinden. Die Aktion, die sich dem Millennium-Entwicklungsziel „Primarschulbildung für alle“ der UN verpflichte fühlt, möchte einen Beitrag zur Bildung und der Erweiterung der Schreib- und Lesekompetenz der Kinder leisten. Entsprechend gehört es an den teilnehmenden Schulen, Kinderkrippen und -heime zum Lehrplan, Brief an Papai Noel, den Weihnachtsmann, zu verfassen.
In den Jahren 2009 bis 2011 allein gingen 4.396.941 Briefe ein. Über zwei Millionen davon erfüllten die strengen sozialen Kriterien der Weihnachts-Aktion. Knapp 1,5 Millionen Briefe fanden Paten, die Kindern ihre schriftlichen Weihnachtswünsche erfüllt haben.
Mehr als 12.000 Ehrenamtliche habe die Correios in den vergangenen drei Jahren bei ihrer Mission, Werte wie “compaixão” (Mitgefühl), “solidariedade” (Solidarität) und “alegria” (Freude) zu vermitteln und Kindern in Not eine große Weihnachtsfreude zu bereiten, unterstützt. Aufgabe der Ehrenamtlichen ist es, die Briefe zu prüfen, zu lesen, zu erfassen und mit einer Nummer zu versehen. Wie viel Zeit der Ehrenamtliche investiert, richtet sich nach seinem Zeitbudget.

Freitag, 7. Dezember 2012

Tückische Heimweh-Falle

„Prävention bezeichnet in der grundlegenden Bedeutung des Begriffs ein Handlungsprinzip:Praevenire heißt zuvorkommen. Man tut etwas, bevor ein bestimmtes Ereignis oder ein bestimmter Zustand eintreten, damit diese nicht eintreten oder zumindest der Zeitpunkt ihres Eintretens hinausgeschoben wird oder ihre Folgen begrenzt werden“, schreibt Ulrich Bröckling in seinem Artikel „Vorbeugen ist besser… Zur Soziologie der Prävention“, veröffentlicht in “Behemoth. A Journal on Civilisation” aus dem Jahr 2008.
Dieses Mal hatten wir keinerlei Vorkehrungen getroffen. Wir waren einfach nach Deutschland gereist, zusammen, einen Monat vor Weihnachten, damit mein Mann nicht 17 Tage nach seiner Rückkehr von einer Geschäftsreise nach Deutschland erneut den langen Flug auf sich nehmen müsste. Ein großer Fehler, wie sich im Nachhinein herausstellen würde.
Bereits in der Planungsphase offenbarte sich, dass ich meinen Bruder – wie wir es auch drehten und wendeten – nicht treffen könnte und dass sich eine sehr gute Freundin außer Landes befinden würde. Doch leider war jetzt alles gebucht.
Am Anreisetag würde ich am frühen Nachmittag bei meiner Familie in Bayreuth eintreffen. Ich würde drei volle Tage dort verbringen und am vierten Tag, ebenfalls am frühen Nachmittag, wieder abreisen, denn die Planung meines Mannes hatte sich verändert und wir würden uns bereits am Donnerstagabend und nicht, wie ursprünglich geplant, am Samstagmittag in Berlin treffen.
Nun hieß es nicht traurig sein und jede Minute auszukosten. Und dies tat ich: Ich genoss die Autofahrten durch die idyllischen Landschaften Frankens, die gemeinsamen Mahlzeiten, die Weihnachtseinkäufe und die Abende bei Kerzenschein.
Als der Zug schließlich in Berlin einfuhr, hatte ich zum zweiten Mal das Gefühl, anzukommen. Fast auf den Tag genau 35 Jahre habe ich hier gelebt. Berlin ist mein Zuhause, meine Stadt, deren Gesicht sich während der vergangenen 21 Monate nur unmerklich verändert hat.
Ihre Menschen berühren mein Herz. Unvergleichlich sind die Berliner Taxifahrer, häufig der erste Kontakt des Anreisenden. So musste ich meine Koffer bei Nieselregen allein in den Kofferraum wuchten, denn der Taxifahrer hatte es „im Kreuz“ und fluchte während der gesamten Fahrt zum Hotel. Sie sind ehrlich, die Berliner, und erfrischend authentisch, meinungsstark, wenn auch manchmal faktenarm. Sie tragen das Herz auf der Zunge, haben ein gespaltenes Verhältnis zur Höflichkeit und neigen zur Großspurigkeit. Frei nach Wilhelm Busch denkt sich der Berliner „Höflichkeit ist eine Zier, doch besser lebt sich‘s ohne ihr“.
Sie sind DER Gegenentwurf zu den Paulistanos, deren entgegenkommende Höflichkeit uns das Leben in der Megacity angenehm macht und uns gleichzeitig in die Verzweiflung treibt. Ein Ja kann hier vieles bedeuten: Vielleicht, eines Tages, ich würde ja gern, wenn da nicht noch diese Sache wäre, von der du nichts weißt (und von der ich dir natürlich nicht berichte) oder auch wenn Weihnachten und Ostern auf einen Tag fallen. Wie habe ich diese Taxifahrt durch das novembergraue Berlin genossen, so ganz ohne Weichspülprogramm.
Wir tauchten ein in das klirrend kalte Berlin, wo sich Kälte so ganz anders anfühlt als in der Megacity. Gelobt seien Heizungen und Kerzen, denn es ist einfach wundervoll, völlig durchgefroren ein wohlig warmes Café zu betreten oder in einem ruhigen Restaurant bei Kerzenschein zu speisen.
Alles war so vertraut, auch für meinen Mann, den Aachener, der lange in Neuss und eine Zeit in Düsseldorf lebte, bevor er 2005 nach Berlin kam. Wir trafen Freunde, gemeinsam und unabhängig voneinander, und genossen die Offenheit der Gespräche, ihre Tiefe und die Innigkeit der Beziehungen, die wir in der Megacity schmerzlich vermissen. „Expats wechseln alle zwei bis drei Jahre ihren Einsatzort, da ist es doch verständlich, dass sie keine tiefen Bindungen eingehen, schon um den Schmerz zu vermeiden“, hatte mir eine Freundin, die seit 27 Jahren ein Nomadenleben führt, erklärt. Paulistanos, so meine Sprachlehrerin, würden unglaublich viel arbeiten und hätten große Familien. Der Bedarf an neuen Kontakten hielte sich in der Regel in Grenzen.
Je näher unsere Abreise aus Deutschland rückte, desto mehr phantasierten wir über die Zukunft. Eines Tages würden wir wieder in Berlin leben. Wir würden Vanillequark und Peperonibrötchen zum Frühstück genießen, durch die Stadt streifen, allein, zu zweit, mit Freunden und müssten im Kino nicht mehr frieren.
Hätten wir vor dieser Kurzreise in die Heimat Ulrich Bröcklings Artikel gelesen, wären wir nicht zusammen nach Deutschland geflogen, denn wenn der oder die EINE in der Megacity bleibt, lässt es sich leichter zurückkehren.
Als Einzelreisende war es uns bislang gelungen, den Abschiedsschmerz bei der Abreise aus Deutschland mit der Sehnsucht nach dem oder der EINEN zu überlagern, die wir automatisch auch auf unseren aktuellen Wohnort São Paulo projizierten. „Vorbeugen ist [tatsächlich] besser…“, insbesondere vor Weihnachten, wo die Trennung von den Lieben in der Heimat besonders schmerzlich ist.
Doch auch für Situationen dieser Art hat der Berliner einen Sinnspruch parat: „Nur die Harten kommen in den Garten!“ Weihnachten soll nur kommen. Wir lassen uns bei über 30 Grad bestimmt nicht unterkriegen!