Freitag, 29. Juni 2012

São Paulo – Berlin – Bayreuth – Berlin – São Paulo oder die Frage nach der Heimat

„Buch doch endlich“, schrieb mein Mann vor noch nicht einmal drei Wochen, nachdem wir wenige Tage zuvor am Rande über einen spontanen Kurztrip nach Deutschland gesprochen hatten. 25 Jahre Abitur sollten am darauffolgenden Wochenende gefeiert werden. Wenn ich mir dies tatsächlich entgehen ließe, würde ich es ewig bereuen. Ich klickte auf „Buchung ausführen“ und realisierte in diesem Moment, dass ich in nicht einmal drei Tagen bereits im Flugzeug sitzen würde.
Mein Organisationstalent war gefragt, schließlich galt es, die Kolumne für die aktuelle Woche zu schreiben und mir zu überlegen, wann und wo ich die nächste verfassen würde, anstehende Termine wahrzunehmen oder zu verlegen, ganz praktische Dinge zu regeln und mich von der Friseurin und der Manicure im Salão de Beleza auf das anstehende Ereignis vorbereiten zu lassen, schließlich würde ich Brasilien repräsentieren, das Land, in dem gepflegte Nägel als ’fator cultural’ gelten. “Manicures brasileiras, as melhores do mundo!” – Brasilianische Maniküren, die besten der Welt. Und da die Nägel mindestens zwei Stunden trocknen müssen, bis die Hände wieder voll einsatzfähig sind, war die übrige Zeit entsprechend straff durchzuplanen.
Sechs Minuten bevor Sr. Claudinei, unser Taxista, eintraf, um mich zum Flughafen zu bringen, war alles erledigt. Inklusive mir.
Ich freute mich auf den langen Flug, der mir viel Zeit zum Ausruhen schenken würde. Doch es sollte anders kommen. Noch bevor wir die Startbahn erreicht hatten, kam ich mit meinem Sitznachbarn, einem zwanzigjährigen jungen Mann, wie sich später herausstellen sollte, ins Gespräch. Ob es auch für mich nachhause ginge, wollte er wissen. Eine fast philosophische Frage – Wo ist mein Zuhause? In São Paulo oder in Berlin? Er selbst kehre nach einem Jahr in Australien und Neuseeland und sieben Wochen in Bolivien, wohin es seine Eltern während seiner Abwesenheit verschlagen hatte, nach Deutschland zurück, wo er nach seiner Zeit in Down Under und vor der Reise nach Südamerika nur einen kurzen, dreiwöchigen Zwischenstopp eingelegt hatte.
Zwei Abenteurer waren einander begegnet. Der junge Globetrotter entführte mich in das entspannte Australien, in die Weiten Neuseelands und in das wilde, unwegsame Bolivien, berichtete davon, wie er mit dem Auto gemächlich durch das Landesinnere Australiens gecruist war und nach einem schweren Regenschauer mit dem Bus für Tage in der Ödnis Boliviens feststeckt hatte, nahezu ohne Wasser und Brot, denn er und seine Eltern waren auf eine Tagesreise eingestellt gewesen.
Ich erzählte davon, wie ich innerhalb von nicht einmal vier Monaten meinem Leben in Berlin den Rücken gekehrt und in São Paulo ein neues begonnen hatte, von der pulsierenden, dynamischen Megacity, einem ganz anderen Südamerika als das, was er gerade verlassen hatte.
Nach gefühlt einer Stunde trafen wir in Madrid ein. An meinem Gate trennten sich unsere Wege, die mich nach Berlin und ihn nach Düsseldorf beziehungsweise Duisburg führten.
Drei Tage in meiner Stadt lagen vor mir, die schöner nicht hätten sein können. Ich habe jede Sekunde genossen – den Kurfürstendamm, zu dieser Jahreszeit einfach großartig, wieder international und vor allem endlich wieder glanzvoll, die stylische Kastanienallee im Prenzlauer Berg und das idyllische Wannsee, den Ort unseres Klassentreffens, das am Folgemorgen um 4.30 Uhr wieder am Kurfürstendamm endete.
Ich verbrachte vier Tage in Bayreuth, mit meiner Familie, genoss die fränkische Natur und Gerichte, die meinen Bruder, der eigens angereist war, und mich in unsere Kindheit zurückversetzten.
In jeder Hinsicht gestärkt ging es zurück nach Berlin, in die Stadt, in der ich die bislang längste Zeit meines Lebens gelebt habe. Ich besuchte Sehnsuchtsorte wie den Schlachtensee, aß, nachdem ich am ersten Tag in Berlin bereits Currywurst verspeist hatte, nun endlich einen Dürüm Döner, das beste Fast Food der Welt, und traf mich mit den Menschen, die mein Leben in den vielen Jahren in Berlin geprägt hatten. Manche hatte ich Weihnachten gesehen, andere, wie meine Klassenkameraden, zuletzt vor fünf Jahren – und doch fühlte es sich so an, als hätte ich alle erst gestern gesehen. Wie schön, wenn auch nicht ganz unanstrengend, denn in der Regel hatte ich drei bis vier Verabredungen pro Tag. Ich reiste von Charlottenburg bis Friedrichshain, von Mitte nach Schlachtensee, von Prenzlauer Berg bis Schöneberg, verblüfft, wie automatisch ich mich von A nach B bewege. Als hätte ich nie anderswo gelebt.
Doch ich lebe in São Paulo, und zu meiner großen Überraschung freute ich mich auf die Rückkehr, auf das Leben mit meinem Mann, auf die Megacity, auf die mich Berlin und New York bestens vorbereitet hatten.
Auf dem Rückflug, den ich neben einem eher unspannenden Ehepaar verbrachte, dachte ich an den jungen Abenteurer, an die Frage nach meinem Zuhause und stellte fest, dass ich in der sehr privilegierten Situation bin, zwei wundervolle Orte meine Heimat nennen zu dürfen. Hier wie dort ist mein Herz zuhause, ohne dass ich mich zerrissen fühlen würde.
Noch erfüllt von diesem Gedanken trat ich am Flughafen Guarulhos vor den Funcionário da imigração, Rafael, der einfach rührend war, wie auch die Disponentin am Taxistand, die zu dieser morgendlichen Stunde herzerfrischend gähnte und mich dabei anstrahlte. Ich bin zurück, ging es mir durch den Kopf, angekommen in meiner neuen Heimat.

Sonntag, 24. Juni 2012

Von der Lust am Abenteuer (2)

Uma dica interessante: Compre o jornal „O Estado de São Paulo“ de hoje e veja na ultima pagina do caderno „Metrópole“ a matéria “Do Pacaembu ao Grajaú, dez tours revelam São Paulo” – Ein interessanter Tipp: Kauf die Zeitung „O Estado de São Paulo“ von heute und sieh Dir auf der letzten Seite des Ressorts „Metropole“ den Bericht “Do Pacaembu ao Grajaú, dez tours revelam São Paulo” an, forderte mich meine Freundin eines Nachmittags per Kurzmitteilung auf.
Meine Neugier war geweckt, nicht zuletzt aufgrund des Wortes relevar: zeigen, aufdecken und enthüllen. Touren, die unbekannte Seiten der Megacity zeigen: Über dieses Angebot wollte ich mehr wissen. Nichts wie auf zum Kiosk, der im brasilianischen Portugiesisch als „banca (de jornais)“ bezeichnet wird.
Begeistert verschlang ich den Artikel, wild entschlossen, an der ersten Tour, die am Folgetag stattfinden sollte, teilzunehmen. Als ich meine Freundin wenig später anrief, hatte die bereits mit einem der Organisatoren der urbanen Exkursionen gesprochen. „Stell Dir vor, derjenige, mit dem ich telefoniert habe, hat mich immer wieder mit filha, Tochter, angesprochen“, erklärte meine Freundin, eine Mittfünfzigerin, belustigt. Gespannt, was uns erwarten würde, verabredeten wir Treffpunkt und Uhrzeit für den kommenden Tag.
Wenn ich an einem Samstagmorgen pünktlich um 8.00 Uhr in der Innenstadt, dem Ausgangspunkt aller Touren sein wollte, müsste ich spätestens um 7.20 Uhr an der Bushaltestelle sein, dachte ich. Doch die Megacity präsentierte sich menschenleer, was dazu führte, dass ich bereits um 7.40 Uhr vor Ort war, ebenso zeitig wie meine Freundin, die preußischste Brasilianerin, die ich kenne.
Fast eine Stunde blieb uns bis zum Start der Entdeckungsreise, über die wir, während wir durch die ausgestorbene Innenstadt mit ihrem leicht morbiden Charme schlenderten, philosophierten. Dass viele Paulistanos an dieser Tour in die Periferia teilnehmen würden, konnten wir uns beide nicht vorstellen, denn deren Interessenlage schätzten wir anders ein. Wir rechneten mit einem jungen, internationalen Publikum.
Als wir gegen 8.30 Uhr einmal mehr den Treffpunkt, das Restaurante Apfel in der Rua Dom José de Barros 99, passierten, wurde das vegetarische Lokal gerade aufgeschlossen. Wir ließen einige Minuten verstreichen, bis wir die Stufen in den ersten Stock hinaufstiegen, in der Hoffnung, dass bald weitere Teilnehmer eintreffen würden.
“Minha filha”, meine Tochter, so begrüßt der 58 jährige Carlos Beutel, meine Freundin auch persönlich. Wir plaudern kurz, bis sich der “homen agitado”, der rastlos wirkende Organisator anderen Aufgaben widmete. Nach einiger Zeit finden sich die ersten Stadtentdecker ein. Wir sind überrascht. Nach drei jungen Frauen erscheinen einige elegante, gut gekleidete Herren zwischen 60 und 70 Jahren, Paare unterschiedlichen Alters und kultivierte und mondäne Damen in den besten Jahren, durchweg Paulistanos. Die Atmosphäre ist entsprechend brasilianisch – alle reden, genießen das exzellente, im Preis inbegriffene Frühstück, füllen Namensschilder aus oder bereiten ihre imposanten Spiegelreflexkameras auf die bevorstehende Tour vor, während ein Team des Senders TV Cultura erste Impressionen einfängt und einige der über dreißig Teilnehmer befragt.
Organisator Carlos Beutel, gleichzeitig Geschäftsführer des Apfel Restaurante, in dem wir uns am diesem Morgen zusammengefunden haben, ergreift das Wort, berichtet über sein Engagement zur Wiederbelebung der Innenstadt und über die Caminhada Noturna no Centro de São Paulo, an jedem Donnerstag veranstaltete kostenfreie nächtliche Erkundungstouren mit unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten. Luís Paulo Simardi, Co-Organisator und Geschäftsführer von Around SP, einem Tourveranstalter, beschreibt das bevorstehende Programm.
Dann die Überraschung: Carlos bittet die Teilnehmer darum, sich kurz vorzustellen und ihre Erwartungen an die Exkursion zu umreißen. Anfangen sollte Esther, die einzige deutsche Teilnehmerin. Mir bleibt das Herz stehen. Vor all diesen Intellektuellen soll ich nun auf Portugiesisch sprechen. Als Carlos mich ermunternd ansieht, erhebe ich meine Stimme und erkläre mich. Nachdem ich ohne größere Patzer alle relevanten Angaben gemacht habe, stellen sich die übrigen Teilnehmer mit teils höchst interessanten Biographien und Motivationen vor. Selbst ein Vereandor, ein Stadtrat, befindet sich unter den Teilnehmern.
Grajaú, so stellte sich heraus, kennt außer mir keiner der Anwesenden. Dies, so erklärt Carlos, soll die Exkursionen ändern, denn es sei wirklich bedauerlich, dass viele Paulistanos über ihre Wohngegend hinaus nur wenige Barrios, Bezirke, der Megacity kennen.
Nachdem wir unsere Fahrkarten und ein Lunchpaket in einem Stoffrucksack erhalten hatten – alles zum unglaublichen Preis von R$ 30,00, umgerechnet € 11,55 – machten uns auf den Weg zur Metrô, zur Estação República.
Bereits nach wenigen Metern war ich im Gespräch mit zwei höchst informierten Herren, die mich gezielt zu Deutschland befragten. Sehr kurzweilig gestaltete sich auch die Fahrt nach Grajaú, denn ein Journalist wollte sich mit mir über die Medienlandschaft in meiner Heimat auszutauschen.
In Grajaú trafen wir schließlich auf den Künstler Mauro Neri, der fundiert über die Graffitiszene in der Megacity berichtete und uns über das 9º Encontro de Graffiti informierte. Die CPTM (Companhia Paulista de Trens Metropolitanos), vergleichbar mit der Berliner S-Bahn, wenn auch nicht im Ansatz so desolat wie diese, hatte den Grafiteiros vor Ort große Flächen zur künstlerischen Gestaltung zur Verfügung gestellt, an die diese in den kommenden zwei Tagen ihre Kunstwerke sprayen könnten.
Wir fotografierten, tauschten uns untereinander und mit den Künstlern aus, bei strahlendem Sonnenschein. Ein großartiges Tor, der neun weitere folgen werden. Von der Periferia über den Nobelbezirk, von der Fußballtour bis zur Architek(tour).

Freitag, 15. Juni 2012

Herausforderungen des Alltags

Es regnete in Strömen. Ich genoss die Wärme des Apartments, entspannte und wunderte mich, dass mein Mann nach 22.00 Uhr noch immer nicht zuhause war, als plötzlich das Telefon klingelte. Ohne jede Begrüßung sagte er: „Bitte ruf sofort meine Assistentin zuhause an. Ich erreiche sie nicht. Sie geht nicht an ihr Handy. Das Tor geht nicht auf. Ich komme hier nicht raus“. „Klar, mache ich“, erklärte ich, denn Nachfragen, das spürte ich, waren nicht angezeigt.
Ich rief also bei seiner Assistentin an und schilderte den Sachverhalt, soweit ich ihn verstanden hatte. „Da kann ich jetzt leider nichts machen“, sagte die überraschte Mitarbeiterin. Heute wurde der Sensor des Eingangstors ausgewechselt. Ich habe die Fernbedienung Deines Mannes geprüft. Sie hat einwandfrei funktioniert, erklärte sie weiter. Unerklärlicherweise war mein Mann dennoch auf dem Firmengelände eingesperrt. Ohne weiter über die Ursachen und mögliche Maßnahmen zu seiner Befreiung zu philosophieren, bat ich sie, ihn sofort anzurufen. Nachdem wir aufgelegt hatten, harrte ich der Dinge. Ihn nochmals anzurufen, schien mir nicht angeraten. Lieber sollte er sich voll auf die Problemlösung konzentrieren.
Inzwischen war es 22.45 Uhr. Ich lauschte dem Regen, der erbarmungslos niederprasselte, als mein Mann tropfend nass zur Tür hereinkam. Fluchend verschwand er in sein Arbeitszimmer. Ich folgte ihm. Noch bevor ich ihn erreichte, war ein Knall zu hören. Er hatte, das erschloss sich mir später, seine Schuhe in die Ecke geworfen und war dabei, die völlig durchnässte Kleidung abzulegen.
Vorsichtig fragte ich, was denn genau geschehen sei, in der Hoffnung, dass er sich, wenn er sich den Frust von der Seele geredet hätte, etwas beruhigen würde. Gegen kurz vor 22.00 Uhr, so erfuhr ich, wollte mein Mann sich auf den Heimweg machen. Wie üblich fuhr er mit dem Auto zum Tor und betätigte die Fernbedienung. Doch nichts geschah. Das Tor blieb verschlossen. Er stieg aus und testete die Fernbedienung, indem er sie unmittelbar an den Sensor hielt. Das Tor bewegte sich nicht einen Millimeter. Der Regen donnerte auf ihn nieder, er nahm den Schirm aus dem Kofferraum und versuchte im Licht des Autoscheinwerfers weiter, das Tor öffnen. Ohne Erfolg.
Schließlich verständigte er die beiden Mitarbeiter, die sich ebenfalls noch auf dem Gelände befanden. Gemeinschaftlich machten sie sich ans Werk. Doch auch die Fernbedienungen der Kollegen funktionierten nicht. „Kannst Du Dir das vorstellen?“, fragte er, noch immer aufgebracht. Ich tröstete ihn, denn das, was er nach diesem vierzehnstündigen Arbeitstag erlebt hatte, möchte keiner erleben, schon gar nicht bei heftigstem Regen.
Während sich die drei Eingeschlossenen an Tor und Sensor zu schaffen machten, rief die Assistentin, wie vereinbart, auf dem Handy meines Mannes an. Nach einem kurzen Austausch übergab er das Telefon an den männlichen Kollegen und arbeitete weiter an der Problemlösung. Die drei sollten versuchen, das Tor manuell zu öffnen, schlug die Assistentin vor. Gesagt, getan. Und tatsächlich: Das Tor ließ sich mit einigem Kraftaufwand öffnen. Endlich!
Mein Mann, der einfach nur noch nachhause wollte, verabschiedete sich von den Kollegen, setzte sich ins Auto und startete. Doch der Motor blieb stumm. Sofort begriff er, dass die Arbeiten unter Scheinwerferlicht die Batterie dahingerafft hatten. Das nun auch noch. Missmutig machte er sich, mit seinem Regenschirm bewaffnet, kurzerhand zu Fuß auf den Heimweg. Schlimmer geht’s nimmer, möchte man denken. Doch weit gefehlt. Zahlreiche Straßen und Bürgersteige auf dem im Idealfall zehnminütigen Fußweg waren unterspült, so dass es ihm nicht erspart blieb, Pfützen weiträumig zu umgehen oder zu überspringen.
Nachdem er sich schließlich seiner völlig durchweichten Kleidung entledigt und seine Schilderungen beendet hatte, ging es ihm geringfügig besser, bis zum nächsten Morgen, der weitere Katastrophen bereithielt.
Wir schreiben Mittwoch, den 6. Juni 2012. Es ist 6.30 Uhr. Noch immer regnete es in Strömen. Um 10.00 Uhr hat mein Mann einen Termin in Jardins, einem Stadtteil, der mit dem Auto im Idealfall in zwanzig Minuten zu erreichen ist. Doch das Auto steht in der Firma, lahmgelegt, ohne funktionierende Batterie. Ich schlage vor, ein Taxi zu bestellen. Eine gute Idee. Mein Mann, an dessen Nerven das zurückliegende Erlebnis gezehrt hatte, ist dankbar, dass ich mich der Sache annehmen will. Ich beginne mit Senhor Claudinei, dem Taxifahrer, der regelmäßig für die Firma meines Mannes fährt. Es sei noch so früh, erklärt der, er könne nicht sagen, wo er zu diesem Zeitpunkt sein werde und ob er den Auftrag übernehmen kann. Zu schade. Ich rufe bei Ligue Taxi, einem Taxifunk, an. Auch dort kann ich mein Anliegen nicht platzieren. Als ob dies zu übersehen wäre, erklärte die Disponentin, dass das Wetter sehr schlecht und die Verkehrssituation höchst angespannt sei. Eine Stunde vor Fahrtantritt könnten Reservierungen entgegengenommen werden. Eine Garantie, dass dann ein Fahrer zur Verfügung stünde, könne sie allerdings nicht geben. Wirklich bedauerlich und nicht ohne Risiko. Ich rufe „meinen“ Taxifahrer vom nächstgelegenen Ponto, dem Taxistand, an. Er sei weit entfernt, sagt er, und er könne nicht garantieren, dass er rechtzeitig zurück sei. Die Uhr tickt und die Miene meines Mannes wird finsterer als der Himmel. Ich wähle nun die Nummer des Pontos. Als auch da keiner abhebt, bittet er mich, die Assistentin anzurufen. Inzwischen ist es 8.23 Uhr. Ich erreiche sie nicht gleich, doch sie ruft unmittelbar zurück und verspricht, ein Taxi aufzutreiben. Wenig später das Update. Sie habe zehn Pontos angerufen und nicht einen Taxifahrer erreicht. Mein Mann ist bedient. Er bittet mich, die Absage des Termins zu veranlassen und macht sich bei strömendem Regen einmal mehr zu Fuß auf den Weg ins Büro.
Zwölf Stunden nachdem die Widrigkeiten des Alltags ihren Anfang genommen hatten, ruft mein Mann von dort an, entspannt und fröhlich. Wir verabreden uns zum Mittagessen und ich bin beeindruckt, wie schnell die zurückliegenden Ereignisse abgehakt sind.

Freitag, 8. Juni 2012

Von der Lust am Abenteuer

Hätte ich nicht eine gewisse Neigung zum Abenteuer, wäre ich sicher nicht auf die Idee gekommen, meinen Mann nur 56 Tage nach unserer ersten Begegnung zu heiraten. Noch dazu vor dem Hintergrund, dass er weitere 26 Tage später nach Brasilien aufbrechen sollte. Ich tat es dennoch und ließ mich im Februar 2011 auf das nächste große Wagnis ein. Ich folgte ihm nach São Paulo.
Ein großer Schritt, denn zuvor hieß es, mich von meinem heißgeliebten Job als Pressesprecherin einer großartigen Klinik, die mein Leben über Jahre bestimmt und geprägt hatte, zu verabschieden. Ungewiss, wann ich der über 10.000 Kilometer entfernten Megacity wieder arbeiten könnte, denn zum einen schloss mein erstes Visum eine Berufstätigkeit aus und zum anderen war mir die neue Sprache gänzlich fremd, was insbesondere in meinem beruflichen Bereich einem Desaster gleichkommt.
Ich stürzte mich ins Abenteuer, lernte meinen Mann und die Megacity kennen. Mit Bahn und Bus erkundete ich mit meiner Freundin, die ich auf außergewöhnliche Weise während meines ersten Kurzaufenthalts in São Paulo im November 2010 kennengelernt hatte, die Stadt.
Nach nur einer Woche war ich erstmals auf mich gestellt, als Stadtführerin der Ehefrau eines der internationalen Chefs des Unternehmens, das mein Mann hier führt. Ein echtes Erlebnis, ohne Sprach- und Ortskenntnisse.
Auch wenn sich bereits die klassische Alltagsorganisation und -bewältigung durchaus aufregend und bisweilen aufreibend gestaltete, hielt sich dennoch die Abenteuerlust. Ich wollte meinem Mann all die Orte zeigen, die ich bereits kannte, und noch viel mehr entdecken.
An den Wochenenden unternahmen wir Touren zur Avenida Paulista, in die Innenstadt und zur Estação da Luz, mit dem Bus, für meinen Mann, den Autofahrer, bereits ein großes Abenteuer. Häufig dauerte es eine gefühlte Ewigkeit, bis endlich ein Bus kam, denn an den Wochenende verkehren die öffentlichen Verkehrsmittel, wie überall auf der Welt, in deutlich niedrigerer Frequenz. Das hatte ich, erfüllt von Entdeckungsfieber, nicht auf dem Zettel.
Auch waren die Ziele nicht besonders gut ausgewählt, denn sonntags präsentiert sich an vielen Orten der Megacity eine ganz andere Atmosphäre als während der Woche, wenn dort das Leben pulsiert. Nach einigen Wochen hatte mein Mann genug erlebt.
Ich konsultierte meine Sprachlehrerin, die, wenn ich ihr montags von unseren Wochenendausflügen erzählte, bisweilen etwas konsterniert dreinschaute. Jardins und Higienópolis, Orte der Bohème, seien wundervolle Ziele für Spaziergänge am Wochenende, berichtete sie. Die seien mit dem Auto auch weit besser zu erreichen. Ich verstand die Botschaft, modifizierte die Ausflugsplanung und wir genossen die Spaziergänge durch elegante Straßen mit beeindruckender Architektur, mondänen Geschäften und gut gekleideten Menschen.
Nach vielen innerstädtischen Exkursionen zog es uns in die Natur. Dass diese Ausflüge einer guten Vorbereitung bedürfen, wurde mir nach dem zweiten Fehlversuch klar, denn nicht jeder Trilha, jeder Wanderweg, ist ohne Anmeldung und zu jeder Zeit zugänglich. Heute bin ich in der Regel exzellent präpariert, bin mit Adressen, Öffnungszeiten und anderen relevanten Informationen ausgestattet. Inzwischen verfügen wir über einen Katalog von Lieblingsorten, die wir immer wieder besuchen.
Um meinen Mann bei der Stange zu halten, erweitere ich mein Repertoire ständig. Mal ist er ganz begeistert, wie beispielsweise von einem Sonntagskonzert, das wir kürzlich im Parque do Ibirapuera besuchten, mal blickt er bereits bei meinem Vorschlag eher missmutig drein.
Vor einigen Wochen hat mein Mann seine Leidenschaft für die Fotografie wiederentdeckt. Er begann damit, Fachzeitschriften zu studieren, las Testberichte, stöberte sich durch Foren und fing an, mit unserer Kamera zu experimentieren. Diese neue Lieblingsbeschäftigung kam mir sehr zupass, denn länger schon trug ich mich mit dem Gedanken, den Jardim Botânico de São Paulo, den Botanischen Garten, gemeinsam mit meinem Mann zu erkunden. Nun, da war ich sicher, könnte ich ihm dieses Ziel schmackhaft machen, denn wo sonst könnte man bessere Blumendetails, ein Lieblingsmotiv meines Mannes, einfangen. Und tatsächlich, ohne jeden Widerspruch stimmte mein Mann dieser Tour zu. Er war gar begeistert von dieser Idee und komponierte vor Ort großartige Aufnahmen.
Fortan gehörte die Kamera zur Ausflugsgrundausstattung. Wie auch am vergangenen Wochenende, an dem etwas Erstaunliches geschah: Mitten auf der Avenida Santos Dumont, einer der großen Einfallstraßen in die Megacity, hielt mein Mann unvermittelt an und stieg aus. Bevor er den Versuch unternehmen konnte, die Straße zu überqueren, sprach ihn eine Polizistin an, die ihm erklärte, dass eine Überquerung an dieser Stelle viel zu risikoreich sei. Etwas enttäuscht kehrte er ins Auto zurück, denn so gern hätte er das in ein wundervolles Licht getauchte Edifício Altino Arantes (Banespão), eines der Wahrzeichen der Megacity, eingefangen. Vielleicht 100 Meter weiter sah ich eine Brücke, perfekt geeignet, um das heiß ersehnte Foto zu schießen. Ich wies meinen Mann darauf hin, versäumte aber nicht, ihn darüber zu informieren, dass die Gegend nicht die beste sei. Das war ihm egal, er wollte dieses Foto machen. Und so stiegen wir aus und liefen, an abgelegten Schuhen und Kleidungsstücken vorbei, umweht von Uringeruch, auf die Brücke. Nachdem zahlreiche preisverdächtige Fotos entstanden waren, traute ich meinen Ohren kaum, als mein Mann schließlich erklärte, dass wir uns demnächst einmal „down-dressen“ sollten, denn hier könnten wir sicher ausgezeichnete Fotos machen. Das aus dem Mund meines Mannes, der sich sonst beim Hauch von Periferia bereits mitten in der Favela wähnt.

Freitag, 1. Juni 2012

Die Prozentzahl der sportlich aktiven Frauen in Brasilien ist gestiegen

Die Hälfte der Deutschen räumte bei einer aktuellen repräsentativen Umfrage im Auftrag des Gesundheitsmagazins „Apotheken Umschau“ ein, sportlich nicht aktiv zu sein (48,4 %). Vier von zehn der befragten Bundesbürger gaben sogar zu, sich in den vergangenen sieben Tagen nicht einmal für zehn Minuten mehr als nötig bewegt zu haben (39,2 %).
Nach den Gründen für seine geringe körperliche und sportliche Aktivität gefragt, antwortete jeder Vierte (24,9 %), er sei ganz einfach „zu bequem“. Jeder Fünfte (21,3 %) sieht keine besondere Notwendigkeit, sich mehr als nötig körperlich zu bewegen, jeder Siebte (14,3 %) ist immer viel zu müde und erschöpft und jedem Achten (12,2 %) macht körperliche Bewegung ganz einfach „keinen Spaß“.
In Brasilien verhält es sich ähnlich. Laut einer Studie des Gesundheitsministeriums, in deren Rahmen 54.000 Erwachsene in allen Hauptstädten des Landes und im Distrito Federal, dem Bundesdistrikt, zwischen Januar und Dezember 2011 befragt wurden, treiben gerade einmal 39,6 Prozent der brasilianischen Männer und nur 22,4 Prozent der Frauen regelmäßig Sport.
Dass ich jemals in meinem Leben zu denen zählen würde, die regelmäßig Sport treiben, hätte ich noch vor wenigen Wochen nicht gedacht.
Drei Mal hatte ich zuvor den Versuch unternommen: Mein erstes Sportexperiment scheiterte nach der zweiten Stunde, denn die Trainerin war wohl davon ausgegangen, aus mir innerhalb kürzester Zeit eine Spitzenathletin machen zu können. Die Schmerzen, die bereits am Trainingsabend auftraten und mich bestimmt zehn Tage begleiteten, waren schier unerträglich. Nie wieder Sport, schwor ich mir.
Doch mit der Zeit verblassen die Erinnerungen, selbst an die schlimmsten Muskelbeschwerden. Jahre später startete ich einen zweiten Versuch, der ebenfalls kläglich scheiterte. Wieder schmerzte nach dem ersten Training der gesamte Körper. Das war schlimm, doch schlimmer noch war die Atmosphäre des Studios, die mir so gar nicht behagte. Ich kapitulierte.
Irgendwann kam mir der Gedanke, dass ein eigenes Sportgerät die Lösung sein könnte. Kein Trainer, der mich über die Grenzen meiner physischen Belastbarkeit hinaus schinden würde, kein stickiges Studio mit nervtötenden Muskelprotzen. Ich kaufte einen Stepper. Eine Zeit lang nutzte ich dieses Ungetüm, das später jahrelang zum Engpass auf dem Flur wurde.
Mein Mann besitzt eine hohe Affinität zur sportlichen Ertüchtigung. In unseren ersten Wochen im Hotel nutzte er den Sala de Gimnastica, den Fitnessbereich des Hotels, der mich erwartungsgemäß wenig ansprach, bis er schließlich dazu überging, in der Umgebung unseres Apartments zu laufen. Immer wieder versuchte er, mich von der Teilnahme an seinen morgendlichen Joggingrunden zu überzeugen, ohne Erfolg.
Wie auch immer es dazu kam: An einem Sonntag im vergangenen Oktober gab ich mich geschlagen und schnürte ebenfalls meine Schuhe. Wir walkten über schlechte Bürgersteige, überquerten unübersichtliche Straßenkreuzungen und liefen, wenn die Bürgersteige allzu schadhaft waren, auf den Straßen. Zugegeben, es war nicht so schrecklich wie erwartet, doch auch nicht wirklich toll, denn die Unterschiede in unserem Leistungsniveau und die desaströsen Bürgersteige ließen keine dauerhafte Freude aufkommen. Einmal mehr schloss ich das Thema Sport für mich ab.
Vor etwas über einem Monat geschah schließlich ein Wunder: Zufällig war ich auf ein kleines Fitnessstudio in der Umgebung gestoßen, von dem ich meinem Mann, der endlich wieder richtig Sport treiben wollte, berichtete. Eher unwillig begleitete ich ihn zur Besichtigung.
Zu meiner Überraschung gefiel mir das Studio, das den verheißungsvollen Namen Fit Stadium trägt, sofort. Ein gepflasterter Weg mit Blumen, Sträuchern und Bänken gesäumt von Räumen für Spinning und zahlreiche Kurse auf der einen und einem offenen Konditions- und Fitnessbereich auf der anderen Seite. An der Stirnseite ein Schwimmbecken für Aquagymnastik. Besonders fasziniert war ich von der Atmosphäre und den Menschen, die an diesem Samstagvormittag trainierten. Heiter und entspannt trafen hier die unterschiedlichsten Altersgruppen, Hintergründe, Körpermaße und Trainingszustände aufeinander.
Wir vereinbarten einen Termin für die Avaliação Física, den Fitness-Check, obligatorisch für die Mitgliedschaft. Hier erwartete uns eine Trainingsexpertin, die uns, nachdem wir einen ausführlichen Fragebogen beantwortet hatten, wog, vermaß und unterschiedliche Übungen machen ließ. Nach einer Woche lag der detaillierte Bericht mit Empfehlungen für die Trainer vor.
Nun war für mich der Zeitpunkt gekommen, mich zu entscheiden, was mir leicht fiel, denn die monatlichen Mitgliedsbeiträge sind vergleichsweise gering, sodass zu verschmerzen wäre, wenn ich innerhalb der sechsmonatigen Vertragsdauer aufgeben würde.
Am 5. Mai haben wir mit dem Training begonnen. Kaum angekommen, stieg mein Mann freundstrahlend auf das Laufband. Ich bekam eine Einführung durch eine der engagierten Trainerinnen, die wirklich alles richtig gemacht hat. Zwanzig Minuten sollte ich mich auf dem Laufband, einem Gerät das ich nie zuvor ausprobiert hatte, warm machen. Nachdem ich mich in Position gestellt hatte, stellte die einfühlsame Sportlerin das Gerät auf die niedrigste Stufe ein, schaltete, mich genau beobachtend, langsam hoch und erläuterte, dass ich Stufe fünf, gemäßigtes Laufen, für die erste Zeit nicht überschreiten sollte. Anschließend demonstrierte sie die Fitnessgeräte und ließ mich unter Beobachtung leichte Übungen absolvieren.
In der darauffolgenden Woche präsentierte sie mir einen ausgeklügelten, bewältigbaren Trainingsplan, den in den ersten zwei Monaten machen könne. Drei Mal pro Woche sollte trainiert werden. Doch ich würde sehen – schon nach kürzester Zeit würde ich täglich Sport machen.
Soweit ist es bislang noch nicht gekommen. Dienstags und donnerstags starten wir unser einstündiges Trainingsprogramm um 7.00 Uhr, samstags beginnen wir gegen 11.00 Uhr. Inzwischen habe ich mich auf dem Laufband, ein Gerät das für mich entwickelt worden zu sein scheint, auf 50 Minuten bei Stufe sechs gesteigert. Der nächste Level ist anvisiert. Nie, wirklich nie hätte ich das gedacht.