Dienstag, 26. Juli 2011

Reise ins Paradies (1)

Seit Monaten tragen wir uns mit dem Gedanken zu verreisen. Erst sollte es New York sein, die Stadt, in der ich eine Weile gelebt und gearbeitet hatte. Diese wundervolle Stadt wollte ich meinem Mann zeigen, dort wollten wir Anfang Oktober unseren Hochzeitstag zelebrieren.
Schon bald überdachten wir diesen eigentlich sehr romantischen Plan, denn von der Megacity in die Stadt, die niemals schläft, zu fliegen, machte, nachdem São Paulo uns insbesondere in den ersten Monaten durch den omnipräsenten Lärm viel Kraft und Nerven kostete, wenig Sinn. Und wirklich um die Ecke lag die Metropole am Hudson River auch nicht, denn selbst ohne Umsteigen dauert die Reise neun Stunden und 50 Minuten.
Der badische Raum hatte es meinem Mann, als es ihn im Mai beruflich dorthin verschlagen hatte, angetan. Begeistert berichtete er von völliger Stille, der er nachts andächtig gelauscht hatte, und dem guten Essen. Doch auch Baden ist weit weg.
Erschöpft durch Wohnungssanierung und Umzug entschieden wir uns schließlich, den Reisezeitpunkt vorzuverlegen. Als wir eines Tage völlig erfroren in der neuen Wohnung saßen, kam uns der rettende Gedanke: Wir fahren ins warme Bahia und dies so schnell wie möglich.
Wir wollten entspannen, am liebsten in einem idyllischen Resort. Sogleich wurden wir mit Warnungen überschüttet. Die Resorts in Brasilien seien Bettenburgen ohne jeden Erholungswert. Laute Großfamilien würden wir dort antreffen, zur Ruhe kommen würden wir dort sicher nicht.
Mit dem besseren Wetter verloren wir unsere Reisepläne aus den Augen, bis es eines Abends wieder kalt war in der Stadt und das Reisethema wieder aufkam und ich mich an die Recherche machte.
Die begann ich mit einer Befragung der Menschen in meiner Umgebung und kam zu interessanten Ergebnissen. So berichtete meine Sprachlehrerin von einem kleinen, exklusiven Resort in Bahia, das sie vom Hörensagen kannte. Kaum war der Internetauftritt gefunden, richtete ich über das Antwortformular eine Anfrage an dieses Paradies in Itacaré, denn Preise waren der sonst sehr informativen Präsenz nicht zu entnehmen. Eine Antwort erhielt ich nicht. Also rief ich wenig später die englischsprachige Reservierungshotline an und staunte nicht schlecht, als mir eine special offer unterbreitet wurde: Eine Nacht im De Luxe Bungalow sollte R$ 1.600 (Eur 719,43)

kosten und der Superior Bungalow sei für sensationelle R$ 1.350 (Eur 607,06) zu haben. Die Steuern kämen selbstverständlich hinzu.

Ich ließ mich nicht entmutigen und recherchierte weiter. Gute Erfahrungen hatte ich in der Vergangenheit mit Boutique Hotels gemacht. Die würde es sicher auch in Brasilien geben. Natürlich gibt es die, zu ähnlichen Preisen wie das Luxus-Resort.
Als ich meine Freundin Tereza über die erschreckenden Rechercheergebnisse informierte und darüber klagte, dass man in Brasilien für eine Woche Urlaubsvergnügen ein Vielfaches von dem, was in Deutschland verlangt würde, investieren müsse, verwies sie auf Viagens CVC, den brasilianischen Paulschalreiseanbieter.
Als wir schließlich gemeinsam am Telefon den Internetauftritt durchstöberten sah ich sie, die Bettenburgen-Ressorts, zugegeben zu günstigen Tarifen. Nie im Leben würden wir in einer Einheit von 334 Apartamentos mit gigantischen Speisesälen die Ruhe finden, nach der wir uns nach der nicht immer ganz einfachen Eingewöhnungszeit in unserer neuen Heimat sehnten.
Plötzlich erhielten wir aus dem Hintergrund den entscheidenden Tipp. Terezas Ehemann verwies auf Morro de São Paulo, einen Ort auf der Ilha (Insel) de Tinharé, im Municipio von Cairu, der nur per Kleinflugzeug oder mit dem Schiff erreichbar ist, ohne jede Art von Kraftfahrzeugverkehr. Und da mir das Glück gerade hold war, fand ich in Sekundenschnelle die hilfreiche, internationale Website des Ortes (http://www.morrodesaopaulo.com.br).
Unter Accomodations (Hotels & Inns) identifizierte ich zielsicher ein wundervolles Boutique Hotel, dessen Beschreibung bereits mich die Koffer packen lies. Preise waren auch auf dieser Website nicht zu finden, was mich schlimmes ahnen ließ, dafür aber eine

detailgenaue Beschreibung des Standorts, des Praia do Encanto (verzauberter Stand), dem
ruhigsten und letzten Strand von Morro de São Paulo.

Und wieder war die exzellente Internetseite von Morro de São Paulo hilfreich, denn ich fand ein kleines Hotel mit zehn Bungalowsdas keine Wünsche offen lässt.
Am Samstag geht es los, in dieses kleine Paradies, mit dem wir schon jetzt viel erlebt haben. Doch dazu mehr nach unserer Rückkehr.

Das süße Leben ist hier

Mein Mann hatte mich gewarnt und doch konnte ich es nicht lassen: Meinen ersten Tag in der Stadt begann ich mit einem Suco de Laranja (Orangensaft), der so süß und süffig war, das ich noch heute daran denke, und mit einem Pão de Queijo, einer Köstlichkeit, die nur schwer in Worte zu fassen ist. Ich hätte auf die warnenden Worte meines Mannes hören sollen, denn dieses kleine Teiggebilde, das außen etwas kross, innen ganz weich und mit geschmolzenem Käse gefüllt ist, ist eine Einstiegsdroge in die große Palette deftiger brasilianischer Snacks, die Salgados genannt werden.
Kaum hatte ich meine Freundin Tereza zum ersten Mal getroffen, arbeitete sie, eine bekennende Salgado-Süchtige, weiter trickreich an meiner Suchtkarriere. Unter dem Vorwand, mir eine der prächtigsten Straßen São Paulos zu zeigen, lud sie mich ins Cristallo (Rua Oscar Freire, 914, Tel. 3082.1783), dessen Claim bezeichnenderweise La dolce vita è qui (Das süße Leben ist hier.) lautet, ein. Eine Coxinha (kleiner Schenkel), eine wie ein Hühnerschenkel geformte Krokette, gefüllt mit zartem Hühnerfleisch, Empada de Palmito und Empada de Camarão, kleine herzhafte Törtchen gefüllt mit Palmherzen und Krabben, und viele kleine gefährliche Pão de Queijo standen vor mir. Dazu ein Suco de Abacaxi com Hortelã, ein frisch gepresster Ananassaft mit Minze. Und einmal mehr war es um mich geschehen.
Fortan ging es mir immer wieder so, auch in der  Botica do Quintana (Rua André Ampére, 215, Tel: 5507-4125) in Brooklin, die für ihre kleinen salzigen Köstlichkeiten mehrfach ausgezeichnet wurde. Dort werden die Salgados in der Tat zelebriert. Die Bolinhos de Rabada com Mandioca, fritierte Kugeln aus einer Art Kartoffelteig, gefüllt mit zartem Ochsenschwanz, werden einzeln in 12 kleinen quadratischen Glasschälchen serviert und schmecken einfach köstlich.
Der Gang auf die Waage machte mir schließlich zu schaffen und ich schwor den kleinen Köstlichkeiten ab.
Bis zu jenem sonnigen Dienstag, als ich mit meinem Besucher aus Berlin einen Ausflug unternahm. An der Avenida Padre Antônio José Santos bestiegen wir den Bus 477P-10 nach Ipiranga, einem Stadtteil südöstlich des Zentrums, um den Parque Independência mit dem Museu do Ipiranga, auch Museu Paulista genannt, anzusehen.
Nahezu eine Stunde fuhren wir und genossen die interessante Stadtrundfahrt zum regulären Bustarif von R$ 3,00 (Eur 1,35), die uns auch durch für mich ganz neue Gegenden der Stadt führte.
Als wir gegen 13.00 Uhr an der Endhaltestelle angekommen waren, quälte uns der Hunger. Bevor wir die Gegend um das Flüsschen Ipiranga, dessen Name aus dem Tupi-Guarani stammt und übersetzt „Roter Fluss“ heißt, in Anspielung auf das bei Regenfällen durch die rote Erde gefärbte Wasser, wollten wir uns stärken. Doch wo?
Ich erspähte eine an eine Filmkulisse erinnernde Bar & Lanchonete, auf die wir mutig

zuschritten, denn das Bestellen würde in Anbetracht unserer eingeschränkten Sprachkenntnisse vermutlich eine Hürde sein. Speisekarten gab es, wie befürchtete, nicht. Die Tageangebote waren unleserlich und für uns eher kryptisch mit Kreide auf eine Tafel gekritzelt worden.

Was tun also, um unseren Hunger zu stillen? Wir entschieden uns für die bewährten Salgados, die in einer kleinen Vitrine dargeboten wurden, und bestellten per Fingerzeig. Ich wählte zwei Mal Bolinho de Arroz com Espinafre (frittierte Reiskugeln mit Spinat) und ein Bolinho de Bacalhau (frittierte Stockfischbällchen-Kabeljau). Mein Gast entschied sich für Frango Empanado (panierte Hähnchenbrust). Ein Suco de Laranja, der in einer altmodischen Saftpresse vor unseren Augen hergestellt wurde, rundete das Essen in dieser besonderen Atmosphäre ab.
Um eine Bar herum saßen Menschen aus der Nachbarschaft, Berufstätige aus der Umgebung und ein brasilianisches Touristenehepaar mit Kindern, an den Tischen aßen Handwerker, Studenten und ein stylischer Mann, der etwas von einem (Lebens)-Künstler hatte.
Hinter der ovalen Bar mit Retro-Chic bewegten sich drei Kellner auf vielleicht zwei Quadratmetern in graziler Anmut, jonglierten Teller oder reichten Getränke. Unser Kellner, ein älterer Mann, sorgte gut für uns und schenkte uns, sobald der erste Saft getrunken war, aufmerksam nach. Auch die Tagesnachspeise bekamen wir ungefragt- Gelatina vermelhia (rote Götterspeise), denn ein Essen ohne Nachtisch ist in dieser unglaublich charmanten Bar offensichtlich nicht vorgesehen.
Nie werde ich diesen unerwarteten Genuss in dieser Bar ohne Namen vergessen, die köstlichen Salgados in diesem unwirklichen, bezaubernden Ambiente.

Samstag, 23. Juli 2011

Vom Gefühl, angekommen zu sein

Mit einem sehr guten Gefühl bin ich vor 160 Tagen in mein neues Leben in São Paulo aufgebrochen, mit einem Erfahrungshorizont von gerade einmal sechs Tagen, denn ich hatte meinen Mann im November 2010 in der Megacity, die fortan unser Zuhause sein sollte, aus Zeitgründen nur für ein verlängertes Wochenende besuchen können.
Ich war fasziniert von der Stadt, spürte so etwas wie Liebe auf den ersten Blick, die in der Geborgenheit des englischsprachigen Hotels Estanplaza Nações Unidas auf der Rua Guararapes täglich mit vielen schönen Erlebnissen wuchs.
Nachdem wir ein Apartment, das uns in der Weihnachtszeit nahezu unter den Weihnachtsbaum gelegt wurde, nach längerem Überlegen aus den unterschiedlichsten Gründen abgesagt hatte, begann die langwierige, wenn auch durchaus interessante Wohnungssuche, während der ich weite Teile der Stadt kennenlernte. Die endete 84 Tage nach meiner Ankunft, mit der Unterschrift unter dem Mietvertrag.
In den folgenden 29 Tagen wurde die Liebe zu dieser 11-Millionen-Stadt, in die es mich verschlagen hatte, auf eine harte Probe gestellt, denn ich hatte es mir zur Aufgabe gemacht, ein völlig verwohntes Apartment zu einen schönen Zuhause zu machen, ohne solide Sprachkenntnisse und praktisch im Alleingang, denn mein Mann war länger beruflich in Deutschland.
Es waren harte Zeiten mit tausenden Nervereien, von der Wiederinbetriebnahme des in die Jahre gekommenen Gasboilers, die fast in einer Explosion geendet hätte, bis hin zur garantiert staubfreien Reinigung der Steinböden, die das gerade fertig gestellte Apartment in Nebelschwaden hüllte. Doch ich hielt mich an meinen Leitspruch: Nur die Harten kommen in den Garten.
Über 10.000 Kilometer von Berlin, der Stadt, in der ich die letzten 35 Jahre glücklich verbracht hatte, gab es Tage an denen die Liebe zu meiner neuer Stadt aufflammte und Momente, in denen ich einfach nur die Koffer packen wollte. Bis vor ein paar Tagen, denn da hatte ich erstmals das Gefühl, dass ich angekommen bin, hier in São Paulo.
Mit einem Besucher aus Berlin, meiner Freundin Tereza, ihrem und meinem Mann aßen wir in Vila Madalena Feijoada da Lana (Rua Aspicuelta, 421, Tel.: 3814-9191). Plötzlich war es da, dieses Gefühl, des Angekommen-Seins. Wie aus dem Nichts. Ich genoss den strahlend sonnigen Nachmittag mit seiner sanften Luft und dem brasilianischen Nationalgericht, war einfach glücklich in diesem Moment an genau diesem Ort.
Während ich Tage später ganz banale Dinge erledigte, war es einmal mehr da, dieses gute Gefühl: Bei strahlendem Sonnenschein ging ich, nachdem ich für eine Erledigung kurz zu Fuß nach Campo Belo gelaufen war, auf dem Rückweg zu Lev & Clean (Av. Padre Antônio José Santos, 42), in ein kleines, sehr charmantes Geschäft, um einige Putzmittel, die Eliane, unsere Empregada (Putzfrau) bestellt hatte, zu besorgen. Zwei Mal war ich bereits dort gewesen, jeweils mit Tereza, meiner großartigen Freundin, die mich während der vergangenen Wochen und Monate unermüdlich bei den kleinen und großen Herausforderungen, die mein neues Leben mit sich brachte, unterstützt hatte. Wieder wurde ich freudig begrüßt von dem Besitzer, der deutsche Vorfahren hat und stets stolz

ein paar Brocken Deutsch in seine hilfreichen Fachsimpeleien über Putzmittel einwirft. Ob ich heute allein käme, fragte er und blickte mich anerkennend an. Ich holte meinen Einkaufszettel heraus und wir trugen die benötigten Produkte zusammen. Einmal Lipa Box, ein Mittel zur Reinigung der Duschkabinen, für die Kacheln Azulim Tradicional, Veja, DAS brasilianische Putzmittel im Haushalt und, ebenfalls vielseitig einsetzbar, Sabão Glicerinado Neutro. Beflissen bot der nette Mann an, mir die Putzmittel, die praktisch kein Gewicht hatte, zuhause anzuliefern, was ich freundlich ablehnte und glücklich und dankbar selbst erledigte. Alles war ganz einfach und unkompliziert.

Auch gestern, als ich abends einen kurzen Einkauf erledigte, spürte ich es wieder, das Gefühl, als mich die junge Verkäuferin mit einen fröhlichen Hello, boa noite begrüßte und mir, ohne dass ich danach gefragt hätte, mitteilte, dass unsere Lieblingsbrötchen in zehn Minuten frisch aus dem Ofen kämen.
Selbst der etwas verschrobene Kioskbetreiber überreicht mir jeweils ungefragt meine Lieblingsprodukte.
Die Gegend um die Avenida Padre Antônio José Santos ist meine Heimat geworden, mit der liebevollen, schwangeren Verkäuferin im Supermarkt unseres Vertrauens, die einmal eine Einkaufstüte für mich aufbewahrt hatte, dem Schlüsseldienstinhaber mit Kleinganoven-Ausstrahlung, der mir freudestrahlend von seinen littauischen Wurzeln berichtete und vielen anderen Menschen, die sich charmant mit meinen noch rudimentären Sprachkenntnissen arrangieren.

Freitag, 15. Juli 2011

Duft der großen weiten Welt

Einmal mehr bin ich Stadtführerin in der Stadt, in der ich seit Mitte Februar lebe, dieses Mal mit neuen Schwerpunkten, denn jeder Gast ist anders. Dieser erklärte sogleich, dass er das Land bereisen wolle, nicht mit dem Flugzeug, sondern mit dem Bus. Den Terminal Rodoviário do Jabaquara hatte ich einmal von Ferne gesehen, als mein Mann und ich eines Sonntags mit der Metrô von Jabaquara in die Innenstadt gefahren waren, doch wohin man von dort aus reisen kann und welche weiteren Möglichkeiten es für Reisen innerhalb Brasiliens gibt, war mir nicht bekannt.
Also hieß es, sich zu orientieren. Über die Google-Suche war die Internetseite von Socicam (http://www.socicam.com.br), dem Unternehmen, das unter anderem die drei Busbahnhöfe der Stadt (Tietê, Barra Funda und Jabaquara) betreibt, schnell gefunden. Hier kann der Reisende mit der Suche beginnen: Unter dem Menüpunkt Consulta de Viagens gibt er Ausgangspunkt und Ziel der Reise ein und sogleich öffnet sich eine Seite, die Auskunft über die Anbieter der gewünschten Route, deren Telefonnummern, Internetseite, E-Mail und die Terminals, von denen die Route bedient wird, gibt.
Schnell hatte mein preisbewusster Gast den günstigsten Anbieter für die Destination Foz do Iguaçu, im Südwesten des Bundesstaates Paraná, ermittelt. Der Expresso Kaiowa sollte ihn in einer 16 stündigen Nachtfahrt zu einem der touristischen Topziele des Landes bringen, zum sensationellen Preis von R$ 230 (EUR 103,17) für eine Strecke von insgesamt 2128 Kilometern. Ungelöst bleibt das Rätsel des erheblichen Preisunterschieds zwischen Hin- und Rückfahrt: Für die Hinfahrt verlangte der Anbieter gerade einmal von R$ 80 (EUR 35,88), für die Rückfahrt hingegen R$ 150 (EUR 67,28). Fragt sich, ob die Paulista mit dieser Preispolitik ihre Einwohnerzahl senken wollen. Oder – diese Erklärung liegt näher – sie dokumentiert, dass es eine Ehre ist, São Paulo bereisen zu dürfen. Dafür muss man schon etwas tiefer in die Tasche greifen.
Wir wollten auf Nummer sicher gehen und haben uns einen Tag vor Reisebeginn zum Terminal Rodoviário Barra Funda, dem ermittelten Ausgangspunkt der geplanten Reise, aufgemacht, nicht zuletzt, um auch den Weg dorthin zu testen. Als wir nach längerer Busfahrt dort eintrafen, waren wir beeindruckt. Da kann sich so mancher Flughafen verschämt verstecken. 40 Tausend Menschen durchlaufen diesen Terminal nahe der Innenstadt täglich. 28 Plataformas (Haltestellen) stehen zum Einsteigen, zwölf zum Aussteigen bereit. 34 Busunternehmen, die 573 Ziele ansteuern, darunter Städte im Bundesstaat Paraná, Sorocaba und Vale do Ribeira im Bundesstaat São Paulo, den Osten des Bundesstaates Goiás, die Bundesstaaten Mato Grosso und Mato Grosso do Sul und Porto Velho, die Hauptstadt des brasilianischen Bundesstaates Rondônia, sind dort vertreten.
Nun hieß es den Fahrkartenverkauf von Expresso Kaiowa zu finden, was aufgrund der guten Ausschilderung die leichteste Übung war. Aufgeregt schritten wir auf den geschäftigen Fahrkartenverkäufer zu, denn wir mussten uns schließlich auf Portugiesisch verständlich machen. Tapfer trug ich unser Anliegen, für den Folgetag ein Ticket nach Foz do Iguaçu erwerben zu wollen, vor. Am Computer konnten wir den Sitzplatz für die Hin- und Rückfahrt auswählen. Dann die Schrecksekunde: Ich hatte die Reisepläne unseres Besuchers nicht vollständig durchdrungen. Der wollte Freitag am Nachmittag (mit Ankunft am Samstagmorgen) fahren, den Tag in Foz do Iguaçu verbringen und am Samstagabend (mit Ankunft am Sonntagmorgen) zurückkehren und ich hatte die Rückfahrt für Sonntag gebucht, da mir tief in meinem Inneren sein Reisepläne offensichtlich nicht nachvollziehbar waren. Also hieß es, die Rückfahrt umzubuchen, was der ausgesprochen charmante Fahrkartenverkäufer mit einem Lächeln erledigte. Auch die im ersten Versuch falsch eingegebene Geheimzahl der Kreditkarte konnte den smarten Mann nicht aus der Fassung bringen.
Nachdem wir den Standort der Plataforma, von der der Bus am nächsten Tag starten sollte, ermittelt hatten und zur Vorbereitung das Einstiegsprocedere eines gerade abfahrenden Busses beobachtet hatten, verließen wir den von uns als riesengroß empfundenen Busbahnhof glücklich.
Nur vier Tage später stellten wir fest, dass es in der Megacity São Paulo noch größer geht: Wir waren mit Bus und Metrô zum Terminal Rodoviário Tietê gefahren, um eine weitere Busfahrt, dieses Mal nach Rio de Janeiro, zu buchen. Hier bedienen 63 Busunternehmen sage und schreibe 1033 Städte an 72 Abfahrts- und 17 Ankunftshaltestellen. 90 Tausend Menschen bereisen vom größten Busbahnhof Brasiliens aus täglich den Norden, den Nordosten, den Südosten und den Süden des Landes, das Landesinnere des Bundesstaates São Paulo, die Nordküste, die Küste von Espirito Santo, den Bundesstaat Minas Gerais und die Stadt Rio de Janeiro. Auch wer Chile, Uruguay, Paraguay, Argentinien oder Peru bereisen möchte, findet am Terminal Rodoviário Tietê den richtigen Bus.
Nicht nur, wenn man den Duft der großen weiten Welt spüren möchte, lohnt es sich, die Rodoviárias Barra Funda und Tietê in das São Paulo-Sightseeing-Programm aufzunehmen, denn das geschäftige Treiben anzusehen, ist wirklich beeindruckend. Und vielleicht bekommt der ein oder andere Lust, auf diese interessante Weise das Land oder den gesamten Kontinent zu erkunden.

Donnerstag, 7. Juli 2011

Herr, lass es Geduld vom Himmel regnen…

In São Paulo braucht man viel Geduld, viel mehr Geduld als anderswo. Das beginnt beim Warten auf Dienstleister und Lieferanten, geht über die Ausführung von Dienstleistungen bis hin zum Stromausfall oder dem Bezahlvorgang an der Kasse im Supermarkt.
Herr, lass es Geduld vom Himmel regnen, denke ich mir an Tagen, an denen ich, nachdem ich bereits stundenlang tapfer auf eine Lieferung gewartet hatte, langsam die Geduld verliere.
Zieht sich der Prozess über Tage hin, sieht die Sache anders aus: Ich koche innerlich und verfluche die landläufig verbreitete Amanhã (Morgen)-Mentalität, auf die ich leider immer wieder stoße.  Kommt der Dienstleister nach tausenden Versprechungen gar nicht, durchlaufe ich die gesamte Emotionspalette. Konkreter will ich hier nicht werden.
Wie viele Stunden habe ich in den wenigen Monaten, die ich in diesem Land bin, bereits mit Warten verbracht. Auch die möchte ich lieber nicht beziffern.
Es war der erste Dienstleister, den ich in unserem neuen Apartment erwartete. Wir lebten damals noch im Hotel, mein Mann war zu diesem Zeitpunkt in Deutschland. Ich stellte mir den Wecker auf 5.45 Uhr, denn ich wollte rechtzeitig vor dem Dienstleister, der sich für 7.00 Uhr angekündigt hatte, in unserem neuen Apartment sein. Es wurde 7.15 Uhr, es wurde 7.30 Uhr. Ich checkte mein Handy alle zwei Sekunden und die Telefonleitung zur Portaria alle fünf Minuten. Auch Stunden später war der Dienstleister, der während der Vorbesichtigung alle Details gewissenhaft notiert hatte, nicht in Sicht. Nein, er kam einfach nicht. Nie. Und telefonisch erreichbar war er selbstverständlich auch nicht.
Eine Woche später erwartete ich eine Lieferung. Wieder stand ich um 9.00 Uhr, auf die Sekunde pünktlich, auf der Matte. Stunde und Stunde verging, bis die Lieferung um 17.40 Uhr erfolgte. Ein Freudenfest, denn immerhin kam sie.
Manchmal vergehen auch Tage oder gar Wochen. Die Ausführung von Dienstleistungen dauert gefühlt mindestens drei Mal so lange wie in Deutschland. So hat sich unser Elektriker, der bis auf kleinere Schummeleien großartige Arbeit geleistet hat, drei Wochen bei uns aufgehalten, um Lichtschalter und Steckdosen auszuwechseln, einige Lampen auf 127 Volt umzurüsten und vier Steckdosen in der Küche auf 220 Volt zu tranformieren. Auch das Unternehmen, das den Marmor in unserem Eingangsbereich, im Gäste-WC und die Waschtische in allen drei Bädern gereinigt hat, blieb ganze vier Tage bei uns.
Kommt erst höhere Gewalt ins Spiel, wird es gänzlich unkalkulierbar: Als wir gerade zwei Tage in unserem neuen Apartment lebten, telefonierte ich abends mit meinem Mann, der am Vortag zu einer weiteren Dienstreise aufgebrochen war. Unvermittelt flackerte das Licht, surrte der gerade angelieferte Kühlschrank und die Verbindung brach ab. Ein Stromausfall. Nun, das kannte ich schon aus dem Hotel. Ich zündete Kerzen an und rief meinen Mann mit meinem Handy zurück. Von so einem kleinen Stromausfall wollte ich mir meine Pläne nicht durchkreuzen lassen. Ich machte mehr Kerzen an und setzte meine

Hausarbeit bei Kerzenschein fort. Viel später sah ich fassungslos auf die batteriebetriebene Uhr, denn inzwischen war ich bereits drei Stunden ohne Energie. Doch es sollte sich weiter hinziehen: Erst am folgenden Vormittag um 10.22 Uhr gingen nach 15,5 Stunden unvermittelt alle Lichter an.
Zeit hat hier in São Paulo eben eine ganz andere Bedeutung als Deutschland, auch im Supermarkt. Als ich mit meinem Mann den ersten Einkauf im Supermarkt unseres Vertrauens erledigt hatte, legte ich die Waren eiligst auf das Band. Mein Mann, der bereits einige Wochen im Land war, sah mich erschüttert an. „Wir sind hier nicht bei Aldi“, sagte er, was ich etwas verwundert zur Kenntnis nahm. Und tatsächlich: Bis die Kassiererin den Bezahlvorgang des vorherigen Kunden abgeschlossen hatte, hätte man bei Aldi mindestens fünf Kunden an der Kasse durchgeschleust, zumindest bei Aldi Nord.
Inzwischen habe ich einige Tricks auf Lager, um meine Nerven nicht unnötig zu strapazieren: Spätestens am Vortag lasse ich jede Anlieferung oder das Erscheinen von Dienstleistern telefonisch bestätigen.
Ich bestelle alle Lieferanten und Dienstleister am gleichen Tag. Das kann chaotisch werden, insbesondere nach der Mittagspause, denn ob Fast Shop, Ponto Frio oder wie sie alle heißen mögen: Aus unerfindlichen Gründen scheint man in Brooklin gern unmittelbar nach der Mittagspause auszuliefern. Doch auch darauf kann man sich nicht verlassen, denn es wäre nicht Brasilien, wenn denn die Dinge verlässlich wären. So heißt es an diesen Tagen für die Dauer der üblichen Geschäftszeiten an das Apartment gefesselt zu sein. Wie heute. Herr, lass es Geduld vom Himmel regnen. Aber schnell!