Samstag, 28. Januar 2012

458 Jahre São Paulo: Bilder der “Locomotiva do Brasil”

„Als Berlin gegründet wurde, stand Aachen bereits seit mehreren Jahrhunderten in voller Blüte“, erklärte mein Mann vollmundig, als ich eines Tages mit Stolz über meine Heimat-, wenn auch nicht meine Geburtsstadt sprach.
In der Tat: Aachen zelebriert Ende Januar den 1198. Todestag Kaiser Karls des Großen, der die Stadt maßgeblich geprägt hat, mit dem alljährlichen Karlsfest.
Berlin dagegen mutet tatsächlich geradezu jung an, denn die im Jahr 1237 gegründete Stadt begeht am 28. Oktober ihr erst 775. Stadtjubiläum.
Inzwischen haben wir dem alten Europa den Rücken gekehrt und leben nun in einer wirklich jungen Stadt. Nur 458 Jahre zählt São Paulo, unsere neue Heimatstadt, die am 25. Januar 1554 von Manuel da Nóbrega und José de Anchieta, zwei Missionaren, gegründet wurde.
Jung, dynamisch, erfolgreich – das ist die Megacity heute. Veja, das wichtigste brasilianische Nachrichtenmagazin und nach Time und Newsweek auflagenstärkste Heft weltweit, präsentierte zum Geburtstag eine Fotoserie, die den Versuch unternimmt, den wirtschaftlichen Dreh- und Angelpunkt des Landes in dreizehn Aufnahmen in seiner Vielschichtigkeit zu visualisieren, ja zu erfassen.
Beeindruckend sind sie, diese Aufnahmen, dieses Psychogramm einer bipolar anmutenden Stadt. Die Bilder und deren knapp und wohl formulierte Titel spielen mit Klischees und lösen diese auf überraschende Weise auf. Sehr hintergründig und nicht immer leicht zu verstehen für mich, die ich nicht einmal ein Jahr in dieser Stadt lebe.
So zeigt ein Foto, aufgenommen von Ary Diesendruck, die Füße einer Sambatänzerin in der Bewegung, verschwommen durch die rasende Geschwindigkeit. Überschrieben ist die künstlerisch anmutende Aufnahme, mit der der Fotograf den ‘Samba no pé’, den „Samba in den Füßen“, zeigen möchte, allerdings mit dem Titel “Tumulo do samba“, was wörtlich übersetzt „Grab des Samba“ bedeutet. Sonderbar!
Eine Freundin, die lange in der Stadt lebt, half mir weiter. Sie berichtete, dass man in ihren ganz frühen Jahren in der Stadt gesagt habe, dass die Paulista nicht für Karneval geschaffen seien, dass sie gar unfähig seien, ihn zu feiern – dazu seien sie zu trocken und zu arbeitsam. Das macht Sinn und zeigt gleichzeitig, dass Gemeinplätze in dieser Stadt selten greifen und dass der erste Schein häufig trügt.
Alles eine Frage der Perspektive. São Paulo ist die “Locomotiva do Brasil”, wie Klaus Mitteldorf seine beeindruckende Fotografie nennt, die wartende Fahrradlieferanten mit ihrem Arbeitsgerät vor einer Fleischerei zeigt. Es mag Momente der Ruhe geben, Stillstand gibt es aber nicht.
Auch nicht in Brooklin. Zwölf Häuser mit unterschiedlichem Baufortschritt sind vor unseren Augen entstanden, in nicht einmal sieben Monaten. Die vier Pavillons, die Käufern ihre Immobilie der Zukunft anpreisen, nicht mitgerechnet.
Kaum hatte das neue Jahr angefangen, begann ein Abrissunternehmen die gegenüberliegende pharmazeutisch Produktionsstätte, die noch im Herbst in Betrieb war, zu demontieren. Die Dächer wurden abgetragen, die Produktionshallen mit Baggern eingeebnet. Der blau-weiße Wasserturm, der das Unternehmen speiste, ist inzwischen auch eingerissen und wird bald wie vom Erdboden verschwunden sein. Wir werden ihn vermissen, den schönen Wasserturm mit Retrocharme, denn er ragte aus dem Meer kleiner Einfamilienhäuser heraus wie eine Art Wahrzeichen.
Auch der Turm des TV-Senders Rede Globo, dessen imposantes nächtliches Farbspiel ein echter Blickfang ist, verschwindet zusehends aus unserem Gesichtsfeld. Bald werden wir auch keine freie Sicht mehr auf die Morumbi-Brücke genießen, die, obwohl sie erst 1992 in Betrieb genommen wurde, bereits zu den anerkannten Wahrzeichen der Megacity zählt.
Klassische Wahrzeichen gibt es wenige in dieser ungeheuer dynamischen Stadt. Der Fotograf Tuca Viera hat eines von ihnen, das 1966 nach Entwürfen von Oscar Niemeyer fertiggestellte Edifício Copan, zum Stadtgeburtstag portraitiert. Seine gelungene Arbeit, die den ketzerischen Titel “A cidade de prédios feios“, „Die Stadt der hässlichen Hochhäuser“, trägt, beschreibt er als „Ballett des Edifício Copan und des alten Hilton Hotels“. Der futuristische Look erinnere ihn an den Film „Metropolis“ des österreichischen Filmkünstlers Fritz Lang.
Das neue Hilton Hotel sehen wir von unserem Balkon. Der Blick auf den aus zwei Türmen bestehenden Gebäudekomplex wird frei bleiben, denn er ragt hoch in den Himmel. Er bleibt ein Fixpunkt, von denen es in der ausgesprochen lebendigen Megacity wenige gibt. Sie entwickelt sich täglich. Schon morgen wird sich ihre Silhouette wieder ein wenig verändert haben. Sie ist nicht statisch und lädt dazu ein, sie immer wieder aus einem neuen Blickwinkel zu entdecken.

Freitag, 20. Januar 2012

„Helikopteropolis“: Adrenalin pur!

Sie prägen das Bild der Megacity wie die traditionellen Black Cabs das Stadtbild Londons, stehen für das südamerikanische Finanz- und Wirtschaftszentrum wie die über 13.000 Yellow Cabs für New York City und die Taxis im Farbton RAL 1015, „Hellelfenbein“, für deutsche Städte – die Helikopter, die insbesondere im Berufsverkehr zahlreich durch die Lüfte schwirren.
„Helikopteropolis“ wird sie vielfach genannt, die Hauptstadt des Helikopterverkehrs, deren Flotte von rund 500 Helikoptern nur von der News Yorks übertroffen wird. 325 Hubschrauberlandeplätze zählt die Megacity, die mehr als 400 Flüge täglich und über 70.0000 Starts- und Landungen pro Jahr verzeichnet.
Ihre Präsenz ist wesentlich der Verkehrssituation geschuldet: Seit 1970 hat sich der Kraftfahrzeugbestand im Großraum São Paulo, in dem mehr als 19 Millionen Menschen auf einer Fläche von 1.530 Quadratkilometern leben, mehr als versiebenfacht. Das Netz befestigter Straßen ist in diesem Zeitraum von 14.000 auf 17.000 Kilometer gewachsen. Staus von um die 200 Kilometern Länge sind keine Seltenheit. Das Durchschnittstempo in den Hauptverkehrszeiten am Abend hat sich in den vergangenen zehn Jahren um 32 Prozent von 25 auf nur 17 Kilometer pro Stunde verlangsamt, wie Jaime Waisman, Verkehrsexperte an der Universität São Paulo, brasilianischen Medien berichtete.
Immer mehr Unternehmer, Manager und Politiker weichen auf den Helikopter aus, nutzen die sogenannten Táxi Aéreo, die Vielfliegern bei einer Buchung eines Kontingents ab 20 Stunden maßgeschneiderte Pakete anbieten.
Doch längst sind es nicht nur Geschäftskunden, die die Megacity und deren Umgebung aus anderer Perspektive kennenlernen, am Tag und in der Nacht. Vom Helikopterflug zu einem Eco-Ressort an der Represa de Mairiporã, einem Stausee nahe der Serra da Cantareira, über das nächtliche Romantikpaket, beides mit entsprechendem Verwöhnprogramm, bis zum klassischen vôo panoramico, einem etwa 20 minütigen Helikopterflug mit Ausblick auf Highlights der Megacity, reicht das Angebot.
Ein vôo panoramico, ein Geschenk mit Erinnerungswert, zum ersten Geburtstag meines Mannes, den wir zusammen in São Paulo begehen würden – das perfekte Geschenk. Ich buchte bei Helimarte, einem angesehenen Unternehmen, seit dreizehn Jahren höchst erfolgreich, mit inzwischen 50 Mitarbeitern, sehr gespannt, was uns erwarten würde.
Wir starteten am Aeroporto de Campo de Marte in der Zona Norte, dem Flughafen mit der größten Helikopterflotte Brasiliens und mit über 123.000 Flugbewegungen an fünfter Position auf der Liste der verkehrsreichsten Flughäfen des Landes.
Wir waren aufgeregt. Die (An-)Spannung wurde größer, als wir die klitzekleinen Helis im Hangar sahen, gegen die die Cessna, die uns in unserem Bahia-Urlaub zurück nach Salvador gebracht hatte, wie ein Airbus A380 anmutete.
Wir sollten mit einem Robinson 44 Raven II 2011, der mit seinen 680 Kilogramm, einer Rumpflänge von 8,94 Metern, einer Höhe von 3,27 Metern und einer Breite von nur 2,18 Metern als leichter, einmotoriger, viersitziger Mehrzweckhubschrauber gilt.
Mein Herz stockte, als ich Vitor Hugo Santiago, unseren Piloten, sah. Er sah so unglaublich jung aus. Dass er 24 Jahre alt und Pilot seit seinem 19. Lebensjahr ist, erfuhr ich viel später.
Großherzig bot mir mein Mann an, vorn neben dem Piloten zu sitzen. Scheinbar abgeklärt, stimmte ich, auch in Anbetracht der bis zu den Füßen reichenden Verglasung, zu. Während wir die Headsets aufsetzten und auf die Startfreigabe warteten, verschwand die Aufregung. Auch während der unspektakulären Startphase, in der der Heli einfach nach oben schwebt, war ich vergleichsweise gelassen.
Dies änderte sich schlagartig, als wir nach kurzer Flugzeit den Marginal Tietê, eine mindestens achtspurige Autobahn, überflogen, und ich den Fehler beging, gerade nach unten zu sehen, während sich der Heli spürbar im Wind wiegte. Ob Turbulenzen bei transatlantischen Flügen, Achterbahn- oder Fährfahrten bei bewegter See: Das macht mir gar nichts. Im Gegenteil. Doch in unserem kleinen Spielzeug-Heli stellten sich die Dinge ganz anders dar.
Glücklicherweise bleib nicht viel Zeit zur Reflexion, denn wir erlebten Highlights im Sekundentakt: Wir sahen die prächtige Estação da Luz, die Pinacoteca do Estado, den Mercado Municipal, die mächtige Catedral da Sé, flogen am Edifício Altino Arantes (Banespão), meinem Lieblingsgebäude, vorbei und konnten das imposante Teatro Municipal von oben bewundern.
Mir verschlug es den Atem, als der Pilot vor dem Edifício Itália plötzlich in der Luft stoppte. Seelenruhig erklärte er, dass man aus dieser Perspektive den Kellnern beim Eindecken der Tische zusehen könnte und verwies, immer noch freischwebend, auf das vom berühmten brasilianischen Architekten Oscar Niemeyer konzipierte Edifício Copan.
Ich entspannte, als wir das Estádio do Pacaembu überflogen und aus der Ferne den Parque do Ibirapuera und den Aeroporto de Congonhas erblickten- auch als wir das Museu do Ipiranga zum Abschluss passierten.
Als wir aber die Häuserschlucht der berühmten Avenida Paulista durchquerten, stockte mein Herz einmal mehr. Zahllose Autos, Menschen, die zur Lunch-Hour die Bürgersteige der ungeheuer breiten Straße bevölkerten, waren plötzlich ganz nah. Adrenalin pur!
Und doch würde ich es wieder wagen. Die scheinbar endlose Megacity aus anderer Perspektive zu erleben, hat sich gelohnt.

Freitag, 13. Januar 2012

New York hat es, Berlin hat es, Zürich hat es

Und jetzt hat es auch São Paulo. Ein kleinformatiges Buch mit weißem Cover. “dois por um“ heißt es in roten und schwarzen Lettern, was so viel bedeutet wie „zwei für eins“.
Mit diesem Buch könnten wir viele Vorzüge der Megacity ein Jahr lang genießen, erklärte Tereza, meine Freundin, als sie mir das Weihnachtsgeschenk für mich und meinen Mann überreichte. Sie zückte ihr Exemplar, blätterte darin und erläuterte das Prinzip: Dirk und ich könnten großartige Restaurants, Spas und andere interessante Locations erkunden, zahlten nur für einen, bekämen einen Drink oder ein Dessert gratis oder könnten von den jeweiligen Angeboten profitieren. Da sie das Buch auch für sich und ihren Mann erstanden habe, könnten wir “dois por um“ auch auf unseren sonntäglichen Ausflügen zu viert einsetzen und hätte gleichsam doppelt gespart.
Kaum irgendwo ist das Rabattprinzip verbreiteter als in den USA. Im Herkunftsland der Coupons waren im Jahr 2009 nach Angaben des renommierten Forschungsinstituts IMAR (Network of Independent Marketing Consultants) 367 Milliarden Coupons im Umlauf.
New York bietet Coupons für alle Lebensbereiche. Von der Übernachtung im Doppelzimmer zum Einzelzimmerpreis, über Rabatte für Sightseeing, Sportevents und Broadwayshow gar bis hin zur Rabattierung aufwändiger zahnmedizinischer Behandlungen.
In Berlin ist es eine Plastikkarte im gängigen Format, die “get2Card“, die seit dem Fall des Rabattgesetzes in Deutschland vor rund zehn Jahren Menschen Vergnügen im Doppelpack zum Preis für einen anbietet.
Aus der Schweiz, seiner Heimat, kannte der Grafikdesigner und Artdirector Christoph Grimm ein, wie er sagt, biederes Rabatt-Buch, dessen Prinzip ihn und Roland Wittwer, einen befreundeten Grafikdesigner und Entdecker des Buchs, überzeugte, nicht aber dessen Aufmachung. 2008 machten sich die beiden Kreativen also ans Werk und verpackten ähnliche Angebote in zeitgemäß stylischem Design.
Nach einem knappen Jahr Vorbereitung war „zwei für eins“ aus der Taufe gehoben. Der Erfolg der ambitionierten Publikation, die aktuell in der Schweiz in vierter Auflage erschienen ist, motivierte den 45 Jährigen, der seit inzwischen 15 Jahren in São Paulo lebt, aus „zwei für eins“ “dois por um“ zu machen. Zusammen mit Ehefrau Rita, einer brasilianischen Food-Journalistin und Architektin, brachte er das Buch, das die Megacity in 115 Highlights aus den unterschiedlichsten Bereichen präsentiert, nach gerade einmal fünf Monaten Vorarbeit auf den Markt.
Das Vorhaben habe bei den Unternehmen sofort großen Anklang gefunden. „Als Projekt aus der Schweiz bekamen wir Kredit für die Glaubwürdigkeit“, mutmaßt Grimm. Mutig hatten die beiden Herausgeber auch angesichts der jüngst veröffentlichen Zahlen zur Internetnutzung – 46,3 Millionen Brasilianer nutzten das Internet im Jahr 2010 aktiv – am Medium Buch festgehalten und sich nicht von höchst erfolgreichen Rabattanbietern wie Groupon von ihrem Vorhaben abbringen lassen. „Klar war es ein Risiko, in einem so internetaffinen Land auf Print zu setzen. Das Buch ist Retro. Wir verstehen es als Provokation“. Die an Lifestyle interessierte Zielgruppe, Kreative und Studenten goutieren dies. Wie auch die Unternehmen, deren Präsentation kostenfrei ist. „Viele Restaurants, die sich für einen Eintrag in `dois por um´ entscheiden, möchten nicht in Portalen wie Groupon erscheinen. Sie schätzen die Exklusivität, die unser Projekt repräsentiert“, erklärt Grimm weiter, dem es nicht um Auflage geht, denn mehr als 10.000 Exemplare der Publikation, die Ende Oktober 2011 in einer Startauflage von 5.000 erscheinen ist, sind nicht geplant. Auch solle das Buch an Umfang eher abnehmen, dafür aber noch exklusiver werden. „Zukünftig wollen wir weniger und noch bessere Angebote bringen“, berichten die Herausgeber.
Mit dem bereits auf dem Cover proklamierten Konzept “AME SUA CIDADE“, „liebe Deine Stadt“, das sich mit Fotos von Menschen, die Sehenswürdigkeiten der Stadt umarmen und Kunstwerken, die São Paulo aus unterschiedlichsten Perspektiven zeigen, durch das gesamte Buch zieht, scheinen die Grimms, der Schweizer und die Brasilianerin, die arbeitssamen Paulista, die sich der besonderen Schönheit ihrer Stadt so wenig bewusst sind, aufrütteln zu wollen.
Aufgerüttelt hat dieses längst fällige Konzept São Paulo Turismo, den Tourismusverband, der sich sogleich auf eigene Initiative einbrachte. Auch die Prefeitura, die Stadtverwaltung, als oberster Dienstherr des eher schwerfälligen São Paulo Turismo, ist als Apoio, als Unterstützer, vertreten.
Mit ihrem Slogan “Nova York tem, Berlim tem, Zurique tem, agora São Paulo tem” haben die Macher von “dois por um“ die Verantwortlichen der Stadt bei ihrer Ehre gepackt.
Mit dem Konzept “AME SUA CIDADE“ laden die beiden São Paulo-Liebhaber Menschen, die in der Stadt leben, ein, diese zu entdecken und mit neuen Auge zu sehen. Der 25. Januar, der 458. Geburtstag der Megacity, bietet einen guten Anlass dazu.
P.S.: “dois por um“ ist unter anderem in den Filialen der Livraria da Vila (R$ 80) erhältlich oder kann auf der Internetseite www.doisporum.net (R$ 75) bestellt werden.

Freitag, 6. Januar 2012

Réveillon em São Paulo

Es regnete in Strömen, seit Stunden, so wie es nur in subtropischem Klima regnen kann. Die Morumbi Brücke war hinter einer Wand aus Regen verschwunden, es war, als existiere Brooklin Novo nicht mehr. Die Megacity wirkte wie eine Geisterstadt, nicht zuletzt, da wohl tatsächlich viele Paulista die sonst so geschäftige Stadt zum Jahreswechsel verlassen hatten.
Tapfer entschied sich mein Mann, dem Regen zu trotzen und in dieser unwirklichen Atmosphäre zum Bankautomaten aufzubrechen, denn die Taxifahrt zur Terraço Itália, dem Ort, an dem wir unser erstes Silvester in unserer neuen Stadt verbringen wollten, ließe sich aller Wahrscheinlichkeit nach besser bar bezahlen.
Während ich noch überlegte, wie ich trockenen Fußes das Taxi besteigen könnte, kehrte mein Mann, im wahrsten Sinne des Wortes, aufgelöst zurück. An keinem Ponto hätte er auch nur ein Taxi gesehen. Dafür aber umso mehr Taxis, die Partygänger an ihren Häusern abholten. Ich hätte mich nachmittags, beim Versuch, ein Taxi an unserem Ponto zu bestellen, zu leicht abspeisen lassen. Jetzt würden wir bestimmt kein Taxi bekommen. Ich verzichtete also darauf, erneut bei unserem Ponto anzurufen und entschied mich gleich für einen Anruf bei Ligue Taxi, dem Funktaxidienst der Stadt. Nachdem ich die unzähligen Fragen der Disponentin erfolgreich beantwortet hatte, erklärte ich meinem Mann siegessicher, dass alles geregelt sei. „Das werden wir noch sehen“, entgegnete er skeptisch.
Nach ungefähr zehn Minuten klingelte mein Mobiltelefon. Das würde die telefonische Bestätigung sein, da war ich sicher. Doch nein, die Disponentin sprach hektisch auf mich ein. Ich verstand nicht alles, nur so viel, dass wir warten (“esperar“) müssten.
In Anbetracht der Uhrzeit, es war deutlich nach 21.00 Uhr, wollte ich auf Nummer sicher gehen und bat Tereza, meine Freundin in allen Lebenslagen, bei Ligue Taxi anzurufen, um den aktuellen Stand der Dinge zu eruieren. Während sie auf einer anderen Leitung mit der Disponentin sprach, ging bei mir ein weiterer Anruf ein, den ich sogleich annahm. “Vinte minutos”, zwanzig Minuten, müssten wir uns noch gedulden, erklärte eine freundliche, weniger hektische Dame. Das bestätigte auch Tereza, die nach getaner Arbeit zu ihrem eigenen “festa de réveillon“ aufbrach. Inzwischen hatte ich auch die Portaria, die Pforte, darüber informiert, dass wir ein Taxi erwarteten und gebeten, dessen Ankunft anzukündigen. „Das Taxi kommt ohnehin nicht. Du musst nicht alle Leute verrückt machen“, erklärte mein Mann missmutig. Wenige Minuten später klingelte schließlich das Haustelefon. Das Taxi sei eingetroffen, berichtete der engagierte Porteiro.
Wir fuhren durch den peitschenden Regen, durchquerten tiefe Pfützen, sahen die wenigen Menschen, die in der Geisterstadt unterwegs waren, dem heftigen Niederschlag entfliehend, hektisch in Autos einsteigen, bis wir plötzlich in einer Autoschlange standen. Vor uns Männer mit überdimensionierten Schirmen, die mehr an Sonnen- als denn an Regenschirme erinnerten. Wir waren angekommen am Edifício Itália, dem vom in Deutschland geborenen Architekten Franz Heep erbauten 168 Meter hohen Wolkenkratzer, dessen Eingangsbereich den Charme eines in die Jahre gekommenen Bürogebäudes versprühte. Einzig das ausgesprochen elegant gekleidete Paar, mit dem wir einen Fahrstuhl teilten, ließ die Exklusivität der Location vorausahnen. Und tatsächlich: Die Terraço Itália ist beeindruckend, nicht zuletzt durch ihren Retro-Charme. Wir genossen das exzellente Büffet, die ausgesprochen heitere, leichte Atmosphäre. Wir konnten uns nicht sattsehen an den vielen interessanten Menschen – waren fasziniert vom in die Jahre gekommenen Hippie mit langem weißen Zopf, bekleidet mit einem weißen, in sich gestreiften Anzug und spitzen weißen Schuhen, den Damen der Gesellschaft in ihren goldenen und silbernen Paillettenkleidern, den lässigen jungen Männern in Jeans und Polohemd, dem in eine Art pastellfarbenes Bonbonpapier gehüllten jungen Mädchen und einer Frau, die mindestens 1,80 Meter groß war, die Statur einer Schwimmerin oder Kugelstoßerin hatte und in weißen Leggins und einer mehr als knapp sitzenden Korsage, die ihre üppigen Rundungen betonte, ausgelassen zu den wechselnden Bands tanzte. Wahrhaft brasilianisch und eben nicht verkrampft und körperlos deutsch.
Brasilianisch waren auch meine Begegnungen auf der Sonnenterrasse, die auch bei Regen einen Besuch lohnt. Schnell kam ich mit einem Ehepaar, durch die Vereinsfarbe grün als Palmeiras-Fans (einer der Fußballclubs der Stadt) und Hoffende erkennbar, ins Gespräch. Aus dem Interior, dem Landesinneren, stammten sie, seine Mutter sei Deutsche, mit Namen Dietrich, und er liebe Borussia Dortmund.
Eine elegante Dame in weißer langer Robe gesellte sich mit ihrem höchst charmanten italienischen Ehemann hinzu und schaltete sich sofort in das lebhafte Gespräch ein. Dies tat auch eine weitere Frau, die, gegen alle “tradições de Réveillon”, schwarz-rot gekleidet war und aus Deutschland stammte. Jörg, ihr Freund, arbeite seit drei Wochen in São Paulo, sie selbst habe hier zwei Wochen mit ihm verbracht und müsse bald zurück. Einhellig beschlossen wir, unsere Männer hinzuzuholen, die wir in den Festsälen zurückgelassen hatten, denn die sollten sich kennen lernen. „Die deutschen Zwillinge“, stellten die Sonnenterrassengäste fest, denn beide Männer trugen dasselbe weiße Hemd mit auffällig blauem Logo.
Lautmalerisch setzte Jörg die Sonnenterrasse über seine Pläne für die kommenden elf Monate, die er hier verbringen wird, in Kenntnis. Wie schön, einen angstfreien Menschen zu erleben, der seine sprachlichen Lücken, ebenso wie ich, auf diese Weise kompensiert.
Es war ein amüsanter Abend, in dessen Rahmen wir mit einem weiteren Ehepaar ins Gespräch kamen: Als Amerikaner wurden sie uns vorgestellt, als Brasilianer entpuppten sie sich – er mit belgischen Vorfahren und beide mit vielen Jahren Lebenserfahrung in Orlando, Florida. Das ist São Paulo, eine internationale Stadt, die glücklicherweise sehr brasilianisch ist und hoffentlich bleibt.

Montag, 2. Januar 2012

Vorbereitungen für ein neues Jahr

Silvester oder Réveillon, wie es in Brasilien heißt, wollten wir in São Paulo, unserer neuen Stadt, verbringen. Doch wie sollten wir diesen besonderen Abend begehen? Freunde hatten berichtet, dass sie im vergangenen Jahr auf ihrem Motorboot gefeiert hatten. Sushi hätten sie genossen und schwimmen seien sie gewesen. Unvergesslich seien die Partys im Clube de Campo São Paulo, erklärte meine Sprachlehrerin. Das Gros der Paulistas verbrächte die Nacht der Nächte allerdings am Strand. Kaum wieder aus Deutschland zurückgekehrt, war die sofortige Weiterreise, vermutlich verbunden mit kilometerlangen Staus, wie wir sie bereits zu anderen Feiertagen erlebt hatten, jedoch keine Option. So schied auch Buenos Aires, mit dem ich kurzfristig geliebäugelt hatte, aus, zumal wir diesen Tag in unserem Land verbringen wollten.
Auf der Weihnachtsfeier der Brasil Post erhielten wir schließlich den entscheidenden Hinweis für unser erstes Silvester auf dem neuen Kontinent. Beeindruckend sei die Terraço Itália. Von dort aus könne man die gesamte Stadt überblicken. Die Atmosphäre sei großartig, das Essen exzellent. In jedem Fall sei dies ein besonderes Erlebnis, insbesondere für das erste Silvester.
Sollte die Terraço Itália ein Geheimtipp sein? Nachdem die Internetseite nicht über die bevorstehende Festivität informierte, blieb nur der Anruf, auf den eine E-Mail mit den wesentlichen Informationen folgte. Sitzpläne, Menüs und Hinweise zu den allgemeinen Konditionen waren enthalten, ebenso wie eine Auskunft zum Dress Code, der uns noch reichlich beschäftigen würde.
Wir entschieden uns für die Piano Bar in der 42. Etage. Von dort sollte der Ausblick unbeschreiblich sein. Sieben Tische standen noch zur Verfügung, 16 waren bereits reserviert. Tisch 93 sollte unser Tisch werden, nah an Fenster und Büffet, auf der gegenüberliegenden Seite des Saales die Band und eine Tanzfläche.
Kaum wieder in São Paulo gelandet, begannen wir mit den Vorbereitungen für unseren Abend. Nachdem ich mich in Deutschland für polierte Fingernägel im Stile des Landes entschieden hatte, galt es nun, die Fingernägel wieder nach brasilianischem Standard stylen zu lassen. Ich entschied mich für einen milchig weißen Ton mit einem Hauch zartrosa, denn weiß sei die Farbe für Réveillon.
Männer wie Frauen trügen weiße Kleidung, strahlendweiß oder naturweiß. Auch Silber und Gold seien akzeptabel, erklärte Tereza, meine wertvolle Beraterin in allen brasilianischen Angelegenheiten, die mich auch über die allgemeinen Silvesterbräuche ins Bild setzte, die wir in diesem Jahr mutig unberücksichtigt ließen. Weiß symbolisiere Frieden, Gleichgewicht und Harmonie, erfuhr ich. Silber repräsentiere Modernität und Schutz und Gold steht für Erfolg und Freude.
Für mich war die Kleidungsfrage relativ schnell entschieden, auch wenn die weihnachtlichen Genüsse dazu geführt hatten, dass die naturweiße Pracht mit Gold und silbernen Akzenten hauteng saß, in Brasilien glücklicherweise absolut en vogue.
In Anbetracht der Location hatte sich mein Mann entschieden, Smoking zu tragen. Nachdem ich ihn aufgeklärt hatte, dass diese Wahl den Gepflogenheiten des Landes entgegenstünde, sollte seine Assistentin recherchieren, ob diese landestypische Sitte auch für die Gäste der Terraço Itália gelte. „Es gibt keinen Zwang, weiß zu tragen. Doch wenn Sie Smoking tragen, werden Sie wahrscheinlich der Einzige sein. Die Mitarbeiterin sagte, dass sie auf der Party noch nie jemanden mit Smoking gesehen habe. Eine Krawatte müssen Sie auch nicht unbedingt tragen. Schauen Sie beim Google nach “Passeio completo”. Das taten wir und zusätzlich studierten wir die Schaufensterauslangen im Shopping Morumbi, die in der Männermode allerdings nicht ganz eindeutig waren. Letztlich kam auch mein Mann zu einer Entscheidung und wählte seinen silbergrauen Anzug kombiniert mit weißem Hemd, ohne Krawatte.
Blieb die Frage, wann wir uns auf den Weg machen würden. “A partir das 21h00“, ab 21.00 Uhr, hieß es im Informationsmaterial für die Piano Bar. Diese Angabe sei nicht eindeutig, erklärte mein Mann, zu meinem Erstaunen. Es könne, neben einem Hinweis auf die Öffnung der Piano Bar, auch bedeuten, dass das Büffet um diese Zeit eröffnet würde. Auch wenn mir dieser Einwand akademisch deutsch vorkam, rief ich Tereza an, um ihre Meinung zu erfragen. „Ich würde nicht vor 21.30 oder 22.00 Uhr dort sein, denn die Erste würde ich nicht sein wollen“. Dieser Hinweis überzeugte meinen Mann, der mich daraufhin bat, ein Taxi zu bestellen.
Ich rief also bereits nachmittags bei unserem Ponto, dem nächstgelegenen Taxistand an, um einen Wagen für den Abend zu reservieren. Das sei nicht üblich erklärte der Fahrer, der das Telefon beantwortete und bat mich, abends, vor Fahrtantritt, erneut anzurufen. Wie sich die Suche nach einem Taxi gestaltete und was wir an diesem Abend erlebten, wird Gegenstand der nächsten Kolumne sein.