Freitag, 28. Dezember 2012

Wissenschaft Réveillon

„In Brasilien gibt es viele Silvesterbräuche“, hatte meine Freundin Tereza vor dem zurückliegenden Jahreswechsel berichtet. „Ich bin ganz sicher, dass Ihr auch im Terraço Itália mit dem ein oder anderen Brauch in Berührung kommen werden“, hatte sie ausgeführt. Schließlich hatte sie mir einen kurzen Überblick gegeben und ich versuchte, die Vielzahl an Silvester-Ritualen aufzunehmen und zu speichern, was mir in der Gänze allerdings nicht gelang.
Einige „Handlungen“ glaubte ich tatsächlich im Rahmen unseres Silvester-Events bemerkt zu haben. In diesem Jahr wollte ich mehr wissen und studierte zahlreiche Quellen. Mein Ergebnis: Réveillon in Brasilien ist eine echte Wissenschaft.
Speisen, die Glück bringen
Der Verzehr eines Esslöffels Linsen (lentilhas) genügt, um Geld im Überfluss beziehungsweise Wohlstand anzuziehen. Damit dies auch wirklich funktioniert, sollte dieser Glückslöffel Hülsenfrüchte die erste Nahrung sein, die im Rahmen des nächtlichen Imbiss konsumiert wird.
Auch Trauben (uva) wird eine große Kraft bescheinigt. Manche essen Trauben, andere deren Kerne. Üblich ist es, elf oder zwölf davon bis zum kommenden Jahreswechsel in der Geldbörse aufzubewahren, um sicherzustellen, dass stets genug Geld darin ist. Mancher platziert dort zusätzlich oder stattdessen ein Lorbeerblatt, das ebenfalls als Glücksgarant gilt.
Nicht ausschließlich als Symbol für Wohlstand steht der Granatapfel (romã). Auch die Fruchtbarkeit soll dieser positiv beeinflussen. Wieder ist die Anzahl der Kerne entscheidend. Je mehr, desto besser. Und wieder etwas für die Geldbörse – kein Wunder, dass die in Brasilien in der Regel deutlich größer ausfällt als beispielsweise in Deutschland: Sieben Kerne – hier kommt die heilige Zahl zum Einsatz – sollten dort für ein Jahr aufbewahrt werden. Sollte damit auch das große Portemonnaie zu platzen drohen, hilft ein weiterer Silvesterglaube, der anrät, einen Geldschein im Schuh zu verstauen. Die Energie betrete den Körper, laut einer entlehnten orientalischen Weisheit, durch die Füße. Dementsprechend würde Geld im Schuh mehr und mehr Reichtum bringen.
Zu Silvester ist Truthahn (peru), anders als zu Weihnachten, absolut tabu. Ebenso der Genuss jeder anderen Form von Geflügel (aves). Auch Krebse (caranguejo) sollten gemieden werden, denn all diese Tiere haben die Angewohnheit, sich bei der Nahrungssuche rückwärts zu bewegen. Entsprechend wird angenommen, dass sich das Leben desjenigen, der sie verzehrt, nicht nur nicht weiter, sondern gar zurückentwickelt.
Schwein (porco) beziehungsweise Spanferkel (leitão) gilt als “portador da sorte”, als Glücksträger, und Wohlstandsbringer. Das Tier, das seine Schnauze stets nach vorn streckt, sollte das Silvesterhauptgericht sein. So wird sich auch das Leben des Schweineessers positiv nach vorn entwickeln. Eine Quelle behauptet gar, dass mit dem Verzehr des Glücksschweins die Schränke das gesamte Jahr über reich gefüllt seien.
Maßnahmen zur Glücksmaximierung
Durch die magischen Speisen frisch gestärkt, kann die Party beginnen. Denn dem persönlichen Glück kann jeder Einzelne nach Mitternacht weiter auf die Sprünge helfen, unabhängig davon wo gefeiert wird.
Wer das neue Jahr auf dem rechten Fuß beginnt, der zieht gute Entwicklungen für sein Leben an. Zur Legitimation dieses Aberglaubens wird sogar die Bibel herangezogen, nach der, so das Almanach der Silvesterbräuche, alles, was rechts sei, gut sei. Wie dem auch sei: Konzentration erfordert die Erfüllung dieses Glücksregel ganz bestimmt.
Mit einem Glas Sekt oder Champagner in der Hand drei Mal in die Höhe zu hüpfen, ohne auch nur einen Tropfen zu verschütten, verlangt ein hohes Maß an Geschicklichkeit. Anschließend gilt es, das Getränk mit Schwung und ohne Unterbrechung hinter sich zu schütten, ohne hinzusehen. Auf diese Weise lässt derjenige, der dieses Spiel absolviert, alles Schlechte hinter sich. Nur keine Sorge, falls die Schaumweindusche andere Umstehende benetzt, denn denen ist, ohne dass sie auch nur etwas tun, Glück durch das gesamte kommende Jahr hinweg garantiert.
Auch beliebt ist es, nach Mitternacht auf einen Stuhl oder eine andere Erhöhung zu steigen. Diese Aktivität, so die Überlieferung, gebe den Impuls dazu, auch im Leben weiterkommen zu können. Klar, dass der Aufstieg nur mit dem rechten Fuß funktioniert.
Wer, wie viele Brasilianer, den Jahreswechsel, der mitten in die „Sommerferien“ fällt, am Strand feiert, ist dazu aufgerufen, dort Kerzen für Iemanjá, ein Göttin der Candomblé, einer afro-brasilianischen Religion, anzuzünden. Auch wer Rosen auf das Meer, dessen Herrscherin Iemanjá ist, wirf, tritt mit ihr in Interaktion. Und das lohnt sich, denn sie beschützt diejenigen, die an sie glauben, schenkt ihnen Gesundheit, Liebe und Geld während der gesamten Jahres.
Ein weiteres Ritual stammt ebenfalls aus der Candomblé: Es gilt, die sieben Wellen des Meeres zu überspringen. Hier wird einmal mehr die heilige Zahl bemüht, die im Candomblé durch Exu, den Sohn Iemanjás, repräsentiert wird. Die sieben Sprünge dienen dazu, dem Glück die Wege zu öffnen – in der Gewissheit, dass dies in der Zukunft garantiert ist. Niemals sollte man dem Meer den Rücken zuwenden. Das wäre schließlich einer Gottheit gegenüber äußerst respektlos.
“Não adianta negar, todo brasileiro é um pouco supersticioso” (Es ist nicht abzustreiten, dass alle Brasilianer ein wenig abergläubisch sind)
Der Hang zum Aberglauben manifestiere sich, laut der Journalistin und Bloggerin Camila Bertolazzi, insbesondere zu Silvester.
eCGlobalnet, ein globales Netzwerk, das registrierten Nutzer die Möglichkeit eröffnet, unmittelbar mit Unternehmen, Marken und Dienstleistern zu interagieren und auf diese Weise Entscheidungen am Markt mitzugestalten, hat das Phänomen untersucht.
Wie verbreitet der Aberglaube in Brasilien tatsächlich ist, wollte das Netzwerk herausfinden und führte im Dezember 2012 eine Befragung durch: Ganze 52 Prozent, also über die Hälfte der Brasilianer, gaben an, an diverse “superstições” glauben. 35 Prozent, so fand man heraus, sind von der Wirksamkeit der zu bestimmten Zeiten praktizierten Rituale überzeugt.
Ein klares Ergebnis, das mich nach 20 Monaten Brasilien und einem hier erlebten Silvester nicht wirklich verblüfft, sondern eher amüsiert. Unfassbar zu welch absurden Handlungen Menschen bereit sind, um Reichtum und Glück „herbeizuzaubern“.
Als ich meinem Mann erheitert von meinen Recherchen erzählte, war der ganz fassungslos: „Ist klar, 1000 Kerne im Portemonnaie tragen – in der Hoffnung darauf, dass die den ganz großen Geldsegen bringen. Wie wär’s denn mal mit Arbeit!“
P.S.: Allen Leserinnen und Lesern wünsche ich ein gutes Jahr 2013 oder ein Próspero AnoNovo.

Freitag, 21. Dezember 2012

Was sich Brasilianer von Papai Noel wünschen würden oder wie zwei Deutsche sich auf Weihnachten in der Megacity vorbereiten

Kleidung, Spielzeug, Schuhe, Accessoires, Kosmetik und Parfums: Dies sind laut einer aktuellen Umfrage von CONECTAí, zuständig für Internetbefragungen bei IBOPE Inteligência, die in diesem Jahr meistgekauften Geschenke brasilianischer Internet-Nutzer.
63 Prozent der Befragten schenken Kleidung, Spielzeug hingegen nur 41 Prozent. 38 Prozent erwerben Schuhe, 35 Prozent entscheiden sich für Accessoires wie Taschen oder Schmuck und 32 Prozent kaufen Kosmetik oder Parfums.
Laut der Umfrage werden 53 Prozent der Geschenke für die Eltern gekauft. 49 Prozent der Präsente sind für Frau/Mann oder Freund/Freundin vorgesehen. Kinder beschenken 36 Prozent der Befragten. 33 Prozent erwerben Geschenke für die Geschwister. Ebenfalls 33 Prozent geben an, sich selbst zu beschenken. Doppelnennungen jeweils mit eingeschlossen.
Um Weihnachten angemessen zu feiern, würden die Befragten auf drei Nahrungsmittel in keinem Fall verzichten: Die Spitzenposition nimmt mit 56 Prozent der Panettone, von italienischen Einwanderern Ende der 1940er nach Brasilien gebracht, ein. Wie in den USA steht auch der Truthahn hoch im Kurs, ohne den für 47 Prozent der Befragten ein gelungenes Weihnachtsfest undenkbar ist. Trockenfrüchte, zu denen auch Walnüsse, Mandeln und Haselnüsse gezählt werden, sind für 32 Prozent unverzichtbar.
Die Getränke-Hitliste wird von Wein angeführt (35 Prozent), gefolgt von Sekt und Erfrischungsgetränken mit jeweils 22 Prozent.
Durchschnittlich bis zum achten Lebensjahr (8,5 Jahre) gaben die Befragten an, an die Existenz des Weihnachtsmanns als guten alten Mann, der die Geschenke bringt, geglaubt zu haben. Könnten sie sich heute etwas vom Weihnachtsmann wünschen, wäre dies, zumindest bei 33 Prozent der 2.292 Teilnehmer der CONECTAí-Befragung, ein höheres Gehalt. Weitere 15 Prozent sollte der Weihnachtsmann eine Beförderung bringen und 14 Prozent erträumen sich eine Gewinnbeteiligung an ihrem Unternehmen.
Auch im Hinblick auf den Ort, an dem sie das Weihnachtsfest verbringen, haben die Befragten einen Traum: New York wäre für 21 Prozent die perfekte Location. 14 Prozent würden gern nach Paris und 8 Prozent nach Jerusalem reisen.
Gefragt, ob sie sich in dieser Zeit des Jahres an sozialen Projekten beteiligten, antworteten 36 Prozent, dass sie dies bislang nie getan hätten. 26 Prozent hingegen gaben an, immer sozial engagiert zu sein. Weitere 38 Prozent beabsichtigen, dies in der Zukunft zu tun und gaben damit eine typische Weihnachtsantwort.
Gut auf Weihnachten vorbereitet sind sie, die brasilianischen Befragten, mit klaren Vorstellungen, wie das Fest verlaufen soll. Wie es um uns steht, nicht einmal eine Woche vor unserem ersten Weihnachten in Brasilien?
Ob ich CDs mit Weihnachtsmusik hätte, hatte mein Mann unvermittelt während des vergangenen Sonntagsfrühstücks gefragt. Stimmt, was wäre Weihnachten ohne Weihnachtsmusik? Drei einzelne und eine Doppel-CD hatte ich zu bieten – von schmalzigem Weihnachts-Pop, über amerikanische Weihnachtsklassiker bis hin zu einigen eher schauderhaften Aufnahmen deutscher Weihnachtslieder, die ich einmal als Beigabe zu einer Frauenzeitschrift erhalten hatte, reichte das Spektrum. Die Wahl fiel auf “Ultimate Christmas: Gold Collection”, die Doppel-CD, die mein Mann sogleich digitalisierte. Ein Anfang. Wie gut, dass es iTunes gibt, denn ein Weihnachten so ganz ohne das Weihnachtsoratorium von Bach, den Weihnachts-Soundtrack meiner Familie, kann ich mir schwer vorstellen.
„Ein Plastikbaum kommt mir nicht ins Haus, ebenso wenig wie einer dieser getrimmten Friedhofsbüsche“, erklärte mein Mann bestimmt, als ich das Thema Deko ins Gespräch brachte. Girlanden, so erfuhr ich weiter, seien für ihn ebenfalls ein No-Go.
Zwei Mal hatte ich Weihnachten in den USA verbracht, unter dem Plastikbaum, der am Abend gar nicht einmal schlecht ausgesehen hatte. Doch bei Tageslicht betrachtet, kann auch ich darauf verzichten.
Mit den „Friedhofsbüschen“, bei denen es sich in Wahrheit um die immergrünen Lebensbäume (Thuja) handelt, hatte ich kurzfristig geliebäugelt, wobei ich mich verbissen gefragt hatte, wie man diese kleinen, dicht gewachsenen Bäumchen sinnvoll schmücken kann. „Wir haben doch die drei Weihnachtsbäume aus dem letzten Jahr“, warf mein Mann ein, und meinte damit die geschmackvollen Holzweihnachtsbäume, die ich im vergangenen Jahr auf dem Weihnachtsbasar des Lar Girassol, eines Kinderheims, erstanden hatte. Nur dass diese mit einer Höhe zwischen dreizehn und 20 Zentimetern die Kriterien eines klassischen Weihnachtsbaums nicht wirklich erfüllten.
Ich sichtete unsere jeweiligen Weihnachtskisten und fand eine große Anzahl von Kugeln in den unterschiedlichsten Farben, von matt bis glänzend. Die sieben in Mattgold gehaltenen kunstvollen Korbkugeln und die grellfarbigen MOMA-Designerkugeln meines Mannes sinnvoll in mein Deko-Konzept zu integrieren, wäre sicher die größte Herausforderung.
Kurz hatte ich in Erwägung gezogen, unsere Rhapis excelsa, eine Palmenart, mit farblich aufeinander abgestimmten Kugeln zu behängen, bis ich ganz hinten im Schrank eine rechteckige, metallene Schale mit herausragenden Adventskerzenhaltern entdeckt. Die könnte ich mit Weihnachtskugeln füllen. Mit Kerzen bestückt, könnte dieses Arrangement einen Weihnachtsbaum ersetzen.
Unterschiedliche rote Kugeln würden eine moderne Glasvase zum Weihnachtsobjekt machen. Die übrigen Weihnachtsornamente ordnete ich kunstvoll auf einem langen Halbregal und einem Tisch an. Drei weitere Elemente fügte ich ein und fertig war die Weihnachtsdekoration “Megacity”.
Nun kann Weihnachten kommen, denn ganz gegen meine Gewohnheit hatte ich das Weihnachtsshopping bereits im November, zusammen mit meiner Mutter, in Deutschland erledigt.
Die Geschenke für meinen Mann, auf die ich aus nachvollziehbaren Gründen nicht näher eingehen kann, liegen, weihnachtlich verpackt, bereit. Soviel kann ich allerdings verraten: Keines der Top-Geschenke brasilianischer Internetnutzer befindet sich darunter.
Auch kulinarisch werden wir andere Wege gehen, als die von CONECTAí Befragten. Wir haben uns für unseren Klassiker, den St. Peter Fisch, mit Gemüse und Kartoffeln entschieden. Auf Panettone werden wir zu Weihnachten wohl verzichten, denn den haben nach der Firmenweihnachtsfeier bereits in größeren Mengen genossen.
Die Weihnachtsgestaltung wird ebenfalls wenig landestypisch ausfallen, denn nach dem Weihnachtsessen am frühen Nachmittag werden wir gegen kurz nach 17.00 Uhr zur Christmette in der katholischen St. Bonifatius-Kirche aufbrechen. Währenddessen können Papai Noel, der Weihnachtsmann, oder das Christkind ihres Amtes walten. Wir sind gespannt!
P.S.: Frohe Weihnachten oder auch Feliz Natal wünsche ich allen Leserinnen und Lesern.

Freitag, 14. Dezember 2012

Ein Geschenk für Brenda: “Campanha Papai Noel dos Correios”

Jedes Jahr zu Weihnachten können Kinder weltweit ihre Weihnachtswünsche per Post auf den Weg bringen. In Finnland nimmt die beispielsweise Santa’s Main Post Office in Napapiiri am Polarkreis entgegen. Russische Kinder können sich mit ihren Anliegen vertrauensvoll an Väterchen Frost in Weliki Ustjug, im äußersten Nordosten der Oblast Wologda, wenden.
In Deutschland haben Kinder gar die Wahl: Sie können ihre Wünsche an den Nikolaus in 49681 Nikolausdorf oder 66351 St. Nikolaus schicken, sie an den Weihnachtsmann in 16798 Himmelpfort, 21709 Himmelpforten oder 31137 Himmelsthür richten oder sie gleich an das Christkind adressieren, das ihre Briefe in 97267 Himmelstadt und 51777 Engelskirchen gegen Rückporto beantwortet.
Die Einsendung von Postwertzeichen ist in Brasilien nicht erforderlich. Hier können Kinder ihre Wunschzettel einfach in den Agências de Correios (AC), den Postämtern, abgeben.Anders als in Deutschland können sich Kinder aus sozial schwachen Familien, wenn ihr Wunschzettel einen Paten findet, sogar über ein Weihnachtsgeschenk freuen.
Über meine Freundin Tereza hatte ich schon 2011, in meinem ersten Jahr, von derCampanha Papai Noel dos Correios”, der Weihnachtsmann-Kampagne der Post, erfahren. Sie hatte mir von einigen rührenden Briefen berichtet, die sie in den vergangenen Jahren gelesen und als Geschenk-Patin adoptiert hatte. Wenn ich etwas mehr Portugiesisch spräche, würde mir die Kampagne sicher viel Freude bereiten, hatte sie erklärt.
In den vergangenen Tagen nun kamen mir Terezas Worte wieder in den Sinn und ich machte mich an die Recherche. Die diesjährige Kampagne, so entnahm ich der Website der Correios, hatte bereits am 14. November begonnen und würde am 14. Dezember enden. Wollte ich teilnehmen, war Eile geboten.
Ganz in meiner Nähe fand ich diverse Agências de Correios, bei denen ich die Wunschzettel der Kinder lesen könnte. Ich entschied mich für die AC SHOPPING CENTER IBIRAPUERA, denn dort würde ich praktischerweise sofort das Wunschgeschenk kaufen können.
Als ich das Postamt betrat, wies auf den ersten Blick nichts auf die Weihnachts-Aktion hin. Ich sah mich um und entdeckte schließlich ein eher unscheinbares DIN-A4-Plakat mit Informationen zur Dauer der Kampagne, was mir nicht wirklich weiterhalf. Also zog ich eine senha, eine Wartemarke, um am Schalter mehr über die Teilnahme zu erfahren.
Die Postmitarbeiterin strahlte, als ich sie über mein Anliegen informierte, und wies auf eine Dame im Wartebereich, die gerade dabei war, die Briefe der Kinder zu lesen. Ich solle mich einfach dazusetzen und mir von der Dame die Briefe, die sie bereits gelesen hatte, geben lassen. Gesagt, getan.
Ich war berührt von dem, was ich las, denn die Kinder berichteten offenherzig über ihr Leben, ihre Familiensituation, ihre großen und kleinen Träume und Wünsche. Nicht immer war die Kinderschrift leicht zu entziffern. Auch fehlte mir die ein- oder andere Vokabel, so auch in dem Brief, der mich am meisten bewegt.
Brenda, sechs Jahre alt, berichtete Papai Noel, dem Weihnachtsmann, dass sie mit ihrer Mutter und ihren drei Geschwistern lebe. Sie sei in der 1ª série, was, wie ich später erfuhr, bedeutete, dass sie die erste Klasse besucht. Ihr Vater, so schrieb sie, sei in Bahia, im Nordosten Brasiliens. Er sei mit einer anderen Frau weggegangen. Mit ihrer Mutter, so berichtete das kleine Mädchen weiter, verkaufe sie (für den Lebensunterhalt) Kuchen auf dem Wochenmarkt. Sie freue sich sehr auf Weihnachten und brenne darauf, ihm, dem Weihnachtsmann, von ihren Träumen zu schreiben, denn sie wünsche sich sehnlichst “Patins da Barbie”. All ihre Freundinnen hätten die – nur sie nicht. Auch würde sie sich über eine “Roupa da Barbie” freuen. Die Nummer sei 6 (oder hieß das 8) für Kleidung und 30 oder 31 für Schuhe.
Brenda wünschte sich also irgendetwas aus der Barbie-Welt. Das sollte zu machen sein. Was genau sie sich wünschte, würde ich sicher im Spielzeuggeschäft erfahren, das ich, nachdem ich mich als Patin für Brendas Brief hatte registrieren lassen, mit dem Brief bewaffnet, aufsuchte.
“Patins da Barbie não tem”, erklärte die Verkäuferin abschlägig. Was das denn sei, fragte ich die junge Frau, die mir dies sogleich wortreich zu erklären versuchte. Als sie allerdings realisierte, dass ich ihr nicht folgen konnte, zeigte sie auf einen Roller, ein Patinete, das sei etwas Ähnliches. Ob ich denn Patins, was auch immer dies genau sei, bis morgen bestellen könnte, wollte ich wissen. Das ginge so schnell leider nicht, erklärte sie, doch man habe viele Barbie-Artikel, die sie mir gern zeigen könnte.
Wir tauchten also ein in die Barbie-Welt, die mir fremd ist. Nur nicht über das Frauenbild, das die Marke kommuniziert, nachdenken, ging es mir durch den Kopf. Es galt, eine eilige Mission zu erfüllen.
Ich war begeistert, als ich nach einiger Zeit tatsächlich eine vollständig bekleidete Barbie-Mutter sah, die mit ihrem Kind in der Barbie-Küche Kuchen zubereitet – ganz wie Brenda dies vermutlich mit ihrer Mutter tut. Ich kaufte das deutlich reduzierte Ensemble und verließ das Geschäft. Vielleicht hätte ich ein Wörterbuch mitnehmen sollen, zumal mir das Vokabular von Kindern, unabhängig von der jeweiligen Sprache, nicht wirklich geläufig ist.
Vor der Tür traf ich die Frau, mit der ich im Postamt die Briefe der Kinder gelesen hatte. Wie gut, denn sie könnte mir vielleicht die Vokabel Patins umschreiben. Die sympathische Frau lächelte, deutete auf ihre Schuhe und machte eine sportive Bewegung. Roller – Schuhe – Rollschuhe wünschte sich Brenda also. Darauf wäre ich nie gekommen.
Nachdem mir die Spielzeugverkäuferin zuvor erklärt hatte, dass sich Brenda außerdem mitnichten Kleidung für eine Barbie, sondern für sich selbst gewünscht hätte, machte ich mich auf zu Lojas Americanas, einem mit Woolworth vergleichbaren Kaufhaus.
Ich durchforstete das Sortiment, ohne Erfolg, und fragte schließlich eine Verkäuferin, die mir mitteilte, dass das Geschäft keine Barbie-Kleidung führe. Während ich ratlos da stand, sprach mich eine nette, mütterlich wirkende Frau an, die mir erklärte, dass C & A eine große Auswahl an Barbie-Kleidung hätte. Mütter wissen eben Bescheid.
Im Herausgehen traf ich erneut auf meine Postbekanntschaft, die ein imposantes Skateboard trug. Nun, so erklärte sie, würde sie noch etwas Kleidung kaufen. Das würde ich jetzt auch tun.
Dass es ein so riesiges Sortiment an Barbie-Kleidung gibt, verblüffte mich. Wäre da nicht ihr Stil. Dem Lolita-Look würde ich bestimmt keinen Vorschub leisten. Ich wählte Shorts, die wirklich anzogen wirken würden und fand ein T-Shirt, das meinen Kriterien genügte. Nur war ich mir hinsichtlich der Größe nicht ganz sicher, denn ob Brenda eine Größe sechs oder acht trägt, war nicht eindeutig zu entziffern. Die Verkäuferin, der ich meine generellen Bedenken im Hinblick auf Barbie-Kleidung mitteilte, votierte für Größe acht, denn die würde etwas lockerer und eben nicht hauteng sitzen. Wir komplettierten das Outfit und ich ging zur Kasse, wo ich erneut mit einer Frau ins Gespräch kam, die ganz und gar begeistert war, als sie meine Auswahl sah.
Kinder (offensichtlich auch Kinderkleidung) und Hunde bieten tolle Gesprächsmöglichkeiten, hört man immer wieder. Dass dem wirklich so ist, konnte ich an diesem Tag feststellen.
Zuhause tauschte ich mich mit Tereza über meine Erfahrungen aus. Ich sollte die Geschenke in “papel Kraft”, in Packpapier, einschlagen. So würden sie heil bei Brenda eintreffen.
Ob sie Grüße beigefügt hätte, wollte ich wissen. In einem Fall, als ein Junge sich ein Buch, das ihr in ihrer Kindheit viel bedeutete, gewünscht habe, habe sie einige persönliche Worte an den Jungen gerichtet. Doch dies sei eine große Ausnahme gewesen, denn die Aktion sei zum Schutz der Kinder anonym. Brenda sei erst sechs Jahre alt. Unter Umständen glaube sie noch an den Weihnachtsmann. Ich sollte also lediglich die Aufkleber und das Paket mit ihrem Namen und dem Código da Carta, dem Registrierungscode, versehen und als Absender Papai Noel angeben.
Ich bin diesen Hinweisen gefolgt und habe das Paket heute im Postamt abgegeben, ohne Porto dafür zahlen zu müssen. Feliz Natal, Brenda.
Hintergrund:
Vor 23 Jahren hatten brasilianische Post-Mitarbeiter spontan damit begonnen, Wunschzettel zu Weihnachten entgegenzunehmen und zu beantworten. Nach einigen Jahren wurde diese Privatinitiative zum Unternehmensprojekt, das seit 1997 in allen 26 Bundessstaaten und dem Bundesdistrikt (Brasilia) durchgeführt wird. Alle an den Weihnachtsmann gerichteten Briefe zu beantworten, ist, nach Angaben der Correios, das Hauptziel der “Campanha Papai Noel dos Correios”.
Seit 2010 sind die Bildungsministerien der jeweiligen Bundesstaaten Partner der Kampagne, die öffentliche Schulen, Kinderkrippen und -heime in sozialen Brennpunkten in das Weihnachtsprojekt einbinden. Die Aktion, die sich dem Millennium-Entwicklungsziel „Primarschulbildung für alle“ der UN verpflichte fühlt, möchte einen Beitrag zur Bildung und der Erweiterung der Schreib- und Lesekompetenz der Kinder leisten. Entsprechend gehört es an den teilnehmenden Schulen, Kinderkrippen und -heime zum Lehrplan, Brief an Papai Noel, den Weihnachtsmann, zu verfassen.
In den Jahren 2009 bis 2011 allein gingen 4.396.941 Briefe ein. Über zwei Millionen davon erfüllten die strengen sozialen Kriterien der Weihnachts-Aktion. Knapp 1,5 Millionen Briefe fanden Paten, die Kindern ihre schriftlichen Weihnachtswünsche erfüllt haben.
Mehr als 12.000 Ehrenamtliche habe die Correios in den vergangenen drei Jahren bei ihrer Mission, Werte wie “compaixão” (Mitgefühl), “solidariedade” (Solidarität) und “alegria” (Freude) zu vermitteln und Kindern in Not eine große Weihnachtsfreude zu bereiten, unterstützt. Aufgabe der Ehrenamtlichen ist es, die Briefe zu prüfen, zu lesen, zu erfassen und mit einer Nummer zu versehen. Wie viel Zeit der Ehrenamtliche investiert, richtet sich nach seinem Zeitbudget.

Freitag, 7. Dezember 2012

Tückische Heimweh-Falle

„Prävention bezeichnet in der grundlegenden Bedeutung des Begriffs ein Handlungsprinzip:Praevenire heißt zuvorkommen. Man tut etwas, bevor ein bestimmtes Ereignis oder ein bestimmter Zustand eintreten, damit diese nicht eintreten oder zumindest der Zeitpunkt ihres Eintretens hinausgeschoben wird oder ihre Folgen begrenzt werden“, schreibt Ulrich Bröckling in seinem Artikel „Vorbeugen ist besser… Zur Soziologie der Prävention“, veröffentlicht in “Behemoth. A Journal on Civilisation” aus dem Jahr 2008.
Dieses Mal hatten wir keinerlei Vorkehrungen getroffen. Wir waren einfach nach Deutschland gereist, zusammen, einen Monat vor Weihnachten, damit mein Mann nicht 17 Tage nach seiner Rückkehr von einer Geschäftsreise nach Deutschland erneut den langen Flug auf sich nehmen müsste. Ein großer Fehler, wie sich im Nachhinein herausstellen würde.
Bereits in der Planungsphase offenbarte sich, dass ich meinen Bruder – wie wir es auch drehten und wendeten – nicht treffen könnte und dass sich eine sehr gute Freundin außer Landes befinden würde. Doch leider war jetzt alles gebucht.
Am Anreisetag würde ich am frühen Nachmittag bei meiner Familie in Bayreuth eintreffen. Ich würde drei volle Tage dort verbringen und am vierten Tag, ebenfalls am frühen Nachmittag, wieder abreisen, denn die Planung meines Mannes hatte sich verändert und wir würden uns bereits am Donnerstagabend und nicht, wie ursprünglich geplant, am Samstagmittag in Berlin treffen.
Nun hieß es nicht traurig sein und jede Minute auszukosten. Und dies tat ich: Ich genoss die Autofahrten durch die idyllischen Landschaften Frankens, die gemeinsamen Mahlzeiten, die Weihnachtseinkäufe und die Abende bei Kerzenschein.
Als der Zug schließlich in Berlin einfuhr, hatte ich zum zweiten Mal das Gefühl, anzukommen. Fast auf den Tag genau 35 Jahre habe ich hier gelebt. Berlin ist mein Zuhause, meine Stadt, deren Gesicht sich während der vergangenen 21 Monate nur unmerklich verändert hat.
Ihre Menschen berühren mein Herz. Unvergleichlich sind die Berliner Taxifahrer, häufig der erste Kontakt des Anreisenden. So musste ich meine Koffer bei Nieselregen allein in den Kofferraum wuchten, denn der Taxifahrer hatte es „im Kreuz“ und fluchte während der gesamten Fahrt zum Hotel. Sie sind ehrlich, die Berliner, und erfrischend authentisch, meinungsstark, wenn auch manchmal faktenarm. Sie tragen das Herz auf der Zunge, haben ein gespaltenes Verhältnis zur Höflichkeit und neigen zur Großspurigkeit. Frei nach Wilhelm Busch denkt sich der Berliner „Höflichkeit ist eine Zier, doch besser lebt sich‘s ohne ihr“.
Sie sind DER Gegenentwurf zu den Paulistanos, deren entgegenkommende Höflichkeit uns das Leben in der Megacity angenehm macht und uns gleichzeitig in die Verzweiflung treibt. Ein Ja kann hier vieles bedeuten: Vielleicht, eines Tages, ich würde ja gern, wenn da nicht noch diese Sache wäre, von der du nichts weißt (und von der ich dir natürlich nicht berichte) oder auch wenn Weihnachten und Ostern auf einen Tag fallen. Wie habe ich diese Taxifahrt durch das novembergraue Berlin genossen, so ganz ohne Weichspülprogramm.
Wir tauchten ein in das klirrend kalte Berlin, wo sich Kälte so ganz anders anfühlt als in der Megacity. Gelobt seien Heizungen und Kerzen, denn es ist einfach wundervoll, völlig durchgefroren ein wohlig warmes Café zu betreten oder in einem ruhigen Restaurant bei Kerzenschein zu speisen.
Alles war so vertraut, auch für meinen Mann, den Aachener, der lange in Neuss und eine Zeit in Düsseldorf lebte, bevor er 2005 nach Berlin kam. Wir trafen Freunde, gemeinsam und unabhängig voneinander, und genossen die Offenheit der Gespräche, ihre Tiefe und die Innigkeit der Beziehungen, die wir in der Megacity schmerzlich vermissen. „Expats wechseln alle zwei bis drei Jahre ihren Einsatzort, da ist es doch verständlich, dass sie keine tiefen Bindungen eingehen, schon um den Schmerz zu vermeiden“, hatte mir eine Freundin, die seit 27 Jahren ein Nomadenleben führt, erklärt. Paulistanos, so meine Sprachlehrerin, würden unglaublich viel arbeiten und hätten große Familien. Der Bedarf an neuen Kontakten hielte sich in der Regel in Grenzen.
Je näher unsere Abreise aus Deutschland rückte, desto mehr phantasierten wir über die Zukunft. Eines Tages würden wir wieder in Berlin leben. Wir würden Vanillequark und Peperonibrötchen zum Frühstück genießen, durch die Stadt streifen, allein, zu zweit, mit Freunden und müssten im Kino nicht mehr frieren.
Hätten wir vor dieser Kurzreise in die Heimat Ulrich Bröcklings Artikel gelesen, wären wir nicht zusammen nach Deutschland geflogen, denn wenn der oder die EINE in der Megacity bleibt, lässt es sich leichter zurückkehren.
Als Einzelreisende war es uns bislang gelungen, den Abschiedsschmerz bei der Abreise aus Deutschland mit der Sehnsucht nach dem oder der EINEN zu überlagern, die wir automatisch auch auf unseren aktuellen Wohnort São Paulo projizierten. „Vorbeugen ist [tatsächlich] besser…“, insbesondere vor Weihnachten, wo die Trennung von den Lieben in der Heimat besonders schmerzlich ist.
Doch auch für Situationen dieser Art hat der Berliner einen Sinnspruch parat: „Nur die Harten kommen in den Garten!“ Weihnachten soll nur kommen. Wir lassen uns bei über 30 Grad bestimmt nicht unterkriegen!

Freitag, 23. November 2012

Bestens beschirmt in die Regenzeit

Granizo, Hagel, trommelte gegen die Fensterscheiben, als ich mich an einen Artikel erinnerte, den ich kurz zuvor gelesen hatte. In einer Reportage über Berufe, die vom Aussterben bedroht sind, hatte das Wochenmagazin Veja unter anderem über einen Guarda-Chuveiro, einen Schirmmacher, berichtet.
Rein statistisch gesehen regnet es in der südlichen Hemisphäre von Oktober bis März an 76 Tagen. In diesem Zeitraum ist der Regenschirm unverzichtbar. Als ich im Februar 2011 in der Megacity eintraf, gehörte er zu meinen ersten Anschaffungen, denn es regnete eigentlich täglich – meist kurz, aber dafür umso heftiger. Der gerade erst erstandene Regenschirm befand sich in diesen Tagen mehr oder weniger im Dauereinsatz. Schnell raffte es den schlecht verarbeiteten Regenschutz dahin und ich kaufte den nächsten Schirm, den ich, nachdem die Sonne nach einem kurzen Regenguss beim Verlassen eines Restaurants wieder strahlte, dort vergessen hatte. Regenschirm Nummer drei war schnell gekauft.
Meinem Mann erging es nicht anders. Auch seine Regenschirme waren entweder unter der Last ihrer Aufgaben zusammengebrochen oder hatten inzwischen neue Besitzer gefunden. „Kannst Du versuchen, mal einen anständigen Regenschirm zu finden“, bat er eines Tages, als er einmal mehr Ersatz benötigte. „Diese Billigschirme taugen nichts und sehen noch dazu furchtbar aus“, erklärte mein mode- und qualitätsbewusster Ehemann.
Wo ich denn hochwertige Schirme finden könnte, fragte ich meine Freundin Tereza, eine gut informierte Paulistana. Regenschirme in der Qualität, die ich aus Deutschland kennen würde, gäbe es ihres Wissens nach hier nicht. „Wir kaufen unsere Schirme immer in Deutschland“, erklärte die Ehefrau eines vor vielen Jahren eingewanderten Deutschen.
Sicher ist sicher: Ich konsultierte auch Heloisa, meine Sprachlehrerin, bei der ich mit meiner Frage anscheinend einen unsichtbaren Knopf gedrückt hatte. Ob Schirme, Schuhe, Taschen: Heute dominierten chinesische Billigprodukte den Markt. Immer seltener sei der Hinweis “feito oder fabricado no Brasil”, in Brasilien hergestellt, zu lesen, stellte die Professora traurig fest.
Fast genau 21 Monate nach meiner Ankunft in Brasilien hatte ich ihn doch gefunden, den handgefertigten Regenschirm, “feito no Brasil” von Aldo Grecco, Schirmmacher seit seinem 15. Lebensjahr, einem der letzten seiner Art.
Der heute 75 Jahre alte Grecco hatte das Handwerk von seinem Vater, einem italienischen Einwanderer, erlernt. Der war nach seiner Ankunft in São Paulo in den Bezirk Bixiga, eine traditionell italienische Nachbarschaft, gezogen und hatte dort eine Schirmmacher-Manufaktur aufgebaut, die Grecco, der in der fünften Generation Schirmmacher ist, 1972 schloss, um sein eigenes Unternehmen in Itaim Bibi zu eröffnen.
Allein der Klang des Wortes China, das die heimische Industrie aufgrund dieser importierten Modelle zum Preis von R$ 5,00 zum Erliegen gebracht habe, verursache bei dem Mann, der sein Angebot in den vergangenen zehn Jahren deutlich diversifiziert habe, um weiter bestehen zu können, Unbehagen, hatte Veja berichtet.
Ich wollte ihn kennen lernen, den Mann, der laut dem Wochenmagazin bei heutigen Produkten Eleganz und Charme vermisse und sich wehmütig an die Zeiten erinnere, als die Dame noch fünf oder sechs verschiedene handgearbeitete Schirme besessen hätten, farblich passend zur jeweiligen Kleidung.
Auf den Guarda-Chuveiro selbst traf ich nicht, als ich das schmale Ladengeschäft in der Rua Tabapuã 756 in Itaim Bibi betrat, sondern auf eine zurückhaltende Frau, die mir, nachdem ich mich ihr erklärt hatte, bereitwillig ihr Sortiment präsentierte. Es war eine Freude, die leichtgängigen Schirme im klassischen Design zu öffnen. Haptisch durchaus vergleichbar mit der Nutzung eines hochwertigen Schreibgeräts oder eines edlen Chronografen.
Ich testete einen Schirm mit Holzstock- und griff und einen mit Metallstock und Holzgriff, der zu meiner Überraschung kostenintensiver war, als das Modell mit höherem Holzanteil. Der Unterschied begründe sich durch die Anzahl der Paragonstangen, der Metallstreben, die den Schirm stützen, so erfuhr ich. Der Schirm mit 10 Paragonstangen würde R$ 130, der mit acht R$ 120 kosten. In beiden Fällen handele es sich um Schirme des Unternehmens Fazzoletti, das seit 1993 in Porto Alegre ansässig sei. Eigenkreationen des Schirmmachers, so hatte Veja bereits berichtet, liegen bei R$ 300. Möchte ein Kunde seinen Lieblingsschirm mit einer neuen cobertagem, einem neuen Oberstoff, versehen, beginnt diese handwerkliche Arbeit bei R$ 100.
Internationale Kunden wüssten die Qualität ihrer Schirme zu schätzen, erklärte die introvertierte Frau, bei der es sich um Rosa, die Ehefrau des Guarda-Chuveiros handelte, schließlich bescheiden. Gern könne ich einige Visitenkarten mitnehmen, bot sie auf Nachfrage an. Einige Deutsche gehörten bereits zu ihren Kunden.
Dann die Überraschung: Wie es mir denn in Brasilien gefalle, fragte Rosa, die bis dahin eher unzugänglich gewirkt hatte und sich immer wieder auf den Veja-Artikel bezogen hatte, der alle wesentlichen Informationen zum Geschäft enthielte. Höflich sind sie, die Brasilianer, schoss es mir in den Kopf. Da scheint Rosa keine Ausnahme zu sein. Doch bereits während ich antwortete, blitzte echtes Interesse auf. Alle Reserviertheit schien von ihr abzufallen und ich erlebte eine ausgesprochen empathische und warmherzige Frau, mit der ich lange über das Leben philosophierte.
“Nós Nacemos para Fazer Guarda-Chuvas” – frei übersetzt – „Wir sind dazu berufen, Regenschirme herzustellen“, lautet einer der Claims des Traditionshauses. Von Rosa hatte ich nicht wesentlich mehr erfahren, als ich bereits über das Unternehmen wusste. Gleichzeitig hatte ich viel über das Leben gehört, was der Besuch einer Schirmmacherei eher nicht erwarten lässt. Fasziniert von Rosas verborgener Berufung, der Vermittlung ihrer Lebenserfahrung, verließ ich das Geschäft, das seit 40 Jahren ein Teil von Itaim Bibi ist, und trat in die gleißende Sonne, die Grecco mit seinem erweiterten Sortiment dazu befähigt, noch heute Regenschirme zu fertigen.
P.S.: Es bleibt, ein weiteres Traditionsunternehmen in diesem Segment vorzustellen, das über den klassischen Regenschirm hinaus, doch darauf abgestimmt, zahlreiche stylische Produkte anbietet. Mehr dazu in einer der kommenden Kolumnen.

Freitag, 16. November 2012

„Mit Melitta kam Deutschland in Brasilien an“ oder über die Verfügbarkeit meiner deutschen Lieblingsprodukte in der neuen Heimat

Wir plauderten über Brasilien, darüber, was uns, die wir beide aus Deutschland stammen, in das subtropische Land geführt hatte, als meine Gesprächspartnerin beiläufig einstreute, dass sie einmal gehört habe, dass mit Melitta Deutschland in Brasilien angekommen sei. Der Urheber dieses Satzes muss ein echter Fan der Filtertüten sein, dachte ich bei mir. Diese Position hätte ich anderen Traditionsunternehmen eingeräumt.
Doch der mir etwas eigentümlich erscheinenden (An-)Satz ging mir nicht aus dem Kopf. Ende der 1960er Jahre, so recherchierte ich schließlich, hatte sich Melitta als Anbieter eines Komplettsortiments von Produkten für die Kaffeezubereitung in Brasilien, dem größten kaffeproduzierenden Land der Welt, angesiedelt. Aus Unternehmenssicht eine naheliegende Entscheidung.
Mit dem 1908 beim Kaiserlichen Patentamt zu Berlin patentierten Papierfilter, so ist zu lesen, sei 1968 “uma ideia brilhante”, eine brillanten Erfindung, nach Brasilien gekommen, wo bis zu diesem Zeitpunkt sehr wenig erfunden worden sei, was mit diesem Produkt konkurrieren konnte. Offensichtlich hat Melitta, gemäß des wohl bekanntesten Slogans des Traditionsunternehmens, Kaffee auch in Brasilien, zum Genuss gemacht und – nicht zuletzt durch die vereinfachte Zubereitung – die Herzen der Brasilianer gewonnen.
Für Wirtschaftsexperten sei hinzugefügt, dass die Präsenz deutscher Unternehmen in den 1960er und 1970er Jahren insgesamt stark zugenommen hat. So waren 1964 von den zehn größten deutschen Unternehmen acht in Brasilien tätig, in den 70er Jahren hatten von den 100 größten Unternehmen 44 in größerem Umfang in Brasilien investiert. Ein Unternehmen dieser Zeit: Melitta.
Würde es meine Lieblingsprodukte in Brasilien geben? Bereits bevor ich meinem Mann dorthin folgte, trieb mich der Gedanke um, ob und welche davon wohl dort zu bekommen wären.
Während meines ersten Besuchs in der Megacity, knapp drei Monate vor meiner Übersiedlung, stellte ich erleichtert fest, dass die Parfümerien in den Shopping Centern im Hinblick auf die Verfügbarkeit internationaler Produkte keine Wünsche offen lassen. Allerdings währte meine Freude nicht lang, denn mein Lieblingsmascara, gerade einmal 6,5 Millimetern schwarzer Farbe, kostete sage und schreibe R$ 168,00, annähernd 74 Euro. Das französische Produkt war hier fast drei Mal teurer. Da wäre es wohl besser, Kosmetikprodukte auf Vorrat zu kaufen und sie in den zwei Mal 35 Kilogramm Freigepäck, die ich bei meiner Einreise hätte, zu verstauen.
Man könnte meinen, ich hätte im großen Stil Parfümerien und Drogerien ausgeraubt, amüsierte ich mich, als ich die Koffer vor meiner Reise in die neue Heimat schloss. Die Mengen würden sicher reichen, um in São Paulo eine Karriere im Kosmetikhandel zu starten. „Als gäbe es ausgerechnet in Brasilien, dem Land der Körperpflege, keine vergleichbaren Produkte“, kommentierte mein Mann, als ich die Koffer auspackte, konsterniert.
Eine Freundin zeigte deutlich mehr Verständnis. „Wenn wir aus Deutschland zurückkehren, ist das auch immer so“, erklärte sie, als ich ihr von meinem persönlichen Kosmetik-Import berichtete. „Du glaubst nicht, was wir schon alles ins Land gebracht haben. Das Spektrum reicht von der Kaffeemaschine bis zum Rasenmäher“, führte sie aus.
Um etwaigen Versorgungsengpässen vorzubeugen, begann ich nach einer Weile, das Angebot der Drogarias zu sondierten, was meinen Import zu legitimieren schien. Andere Länder, andere Sitten: Rasiergel für Frauen und spezielle Klingen sind hier nicht zu finden, denn in Brasilien depiliert Frau sich die Beine. Die Rasur ist den Männern vorbehalten.
Gesichtsreinigungstücher fand ich, wenn auch nicht die, die ich favorisiere, versteckt in den Regalen einiger Drogarias. Entzückt kaufte ich das importsteuerbelastete deutsche Konkurrenzprodukt, das leider völlig eingetrocknet war. Einige Wochen später wich ich auf ein brasilianisches Erzeugnis aus, was dafür sorgte, dass mir unaufhörlich die Augen tränten. Oder weinte ich meinem Produkt nach? Ich beschloss, meine hier nicht erhältlichen Lieblingsprodukte weiterhin zu importieren oder sie mir von Besuchern aus Deutschland mitbringen zu lassen.
Viele deutsche Lang- und Kurzzeit-Einwanderer, so weiß ich inzwischen, halten dies so, zum Teil mit interessanten Begründungen. So erzählte mir beispielsweise eine junge Frau, die erst wenige Monate zuvor in die Megacity gekommen war, dass sie Nutella und auch (Schweizer) Lindt-Schokolade, einführt, denn beide Schokoladenzubereitungen würden hier einfach anders schmecken. Ein Geschmacksunterschied sei mir bislang noch nicht aufgefallen, entgegnete ich, woraufhin sie mir die Durchführung einer Blindverkostung vorschlug. Sie sei sicher, dass das Originalprodukt den Test gewinnen würde.
Dieser wissenschaftlichen Methode habe ich mich bislang noch nicht bedient. Dafür aber immer wieder einmal deutscher Produkte, die in der Megacity an vielen Orten erhältlich sind.
Bis heute fasziniert mich das Angebot des edlen Traditionsgeschäfts Casa Santa Luzia. Stets führe ich São Paulo-Besucher durch den vom Portugiesen Daniel Lopes 1926 gegründeten Gourmettempel, zeige die bestimmt zwanzig verschiedenen deutschen Biere, die sündhaft teuren Käse aus aller Herren Länder, die Gläser mit Deutschländerwürstchen und die mit Roter Grütze, demonstriere die unterschiedlichen deutschen Brotsorten und ende mit den Süßigkeiten und den internationalen Produkten für Menschen mit Lebensmittelunverträglichkeiten und Ernährungseinschränkungen.
Auch den Mercado Municipal de Santo Amaro präsentiere ich gern mit seinen zahlreichen „deutschen“ Verkaufsboxen. Hier liegt die Toffifee-Schachtel neben der brasilianischen Lacta-Schokolade. Vom Aachener Zentis-Marzipan bis zur KNORR Delikatess Brühe aus Heilbronn ist hier eine bunte Mischung deutscher Lebensmittel zu finden.
Selbst die kleine Padaria, die Bäckerei, an der Ecke hat allerlei deutsche Köstlichkeiten zu bieten, wenn auch teils zu horrenden Preisen. Aber wen schert das schon, wenn die Sehnsucht einmal groß ist.

Freitag, 9. November 2012

III Prêmio de Fotografia 2012: Ende gut, alles gut?

Als ich erschöpft und überglücklich von meinem aufregenden Fototermin in der Zona Leste zurückgekehrt war und meine E-Mails abrief, kam mir spontan der Gedanke, dass dieser Tag wohl mein Glückstag sein müsste, denn wider Erwarten hatte ich Post von der Prefeitura, der Stadtverwaltung, erhalten. Meiner schriftlichen Anfrage nach den Aktivitäten in den Bereichen Natur und Umweltschutz hatte man sich dort tatsächlich angenommen.
Eine Mitarbeiterin des Atendimento ao Cidadão, dem Bürgerservice der Secretaria do Verde e Meio Ambiente, empfahl mir, mit einer der drei Gärtnereien der Prefeitura Kontakt aufzunehmen, um mich über die Maßnahmen der Prefeitura zu informieren. Da war er wieder, der Viveiro Manequinho Lopes, den mir Heloisa, die Sprachlehrerin, vor einiger Zeit bereits ans Herz gelegt hatte.
Die Informationen zur zweiten Gärtnerei, dem Viveiro Arthur Etzel, ließen mich schmunzeln, denn der befände sich im Parque do Carmo, den mir der Gründer der Hilfsorganisation wenige Stunden zuvor als die große öffentliche Grünfläche der Zona Leste aus der Ferne gezeigt hatte.
Auch könne ich den dritten Viveiro, benannt nach dem deutschen Botaniker und Pflanzensammler Harry Blossfeld (1913-1987), der in Südamerika tätig war, in der Zona Oeste besuchen.
Spontan entschied ich mich für den Viveiro Manequinho Lopes, die pragmatische Lösung, denn Abenteuer hatte mir der III Prêmio de Fotografia 2012 bereits genug beschert. Noch dazu hatte ich eine Art Garantie, dass der Viveiro Manequinho Lopes interessante Motive bieten würde, denn meine eher nüchterne Sprachlehrerin war geradezu ins Schwärmen geraten war, als sie von der im Parque Ibirapuera gelegenen Gärtnerei berichtet hatte.
Um mir selbst ein Bild zu machen, beschloss ich, meinen Mann am Feiertag, eine Woche vor Ablauf der Wettbewerbsfrist, mit einer kleinen Fotosafari in den Viveiro Manequinho Lopes zu lotsen. Fotografieren würde ich nicht können, denn es fehlten die Protagonisten, die Menschen, die das Grün in die Stadt bringen, die dort ausschließlich von Montag bis Freitag in der Zeit von 7.00 bis 16.00 Uhr arbeiten.
Wie so oft wirkte das Stichwort Fotosafari Wunder, trotz des bedrohlich bedeckten Himmels, der sich auf dem Weg immer weiter verdunkelte. In der Zivilisation bestens orientiert – geradezu als sei mir ein GPS eingepflanzt – verlässt mich in der Natur leider nur zu oft die Fähigkeit, mich zurechtzufinden, was dazu führte, dass wir, trotz Beschilderung, an der Abbiegung, die uns zum Ziel geführt hätte, vorbeiliefen und längere Zeit durch den weitläufigen Park irrten. Mit dem Regen trafen wir an der Gärtnerei ein und fotografierten begeistert, trotz widriger Umstände.
Die waren ideal, als ich drei Tage später für mein drittes Motiv am gleichen Ort eintraf. Dass ich gleich das erste Foto auswählen würde, wäre mir nicht in den Sinn gekommen. Sicher ist sicher: Obwohl ich sieben weitere Arbeiter portraitierte, waren die Bilder dank eines sehr aufgeschlossenen Vorarbeiters, der mich herumführte, in nicht einmal einer Stunde im Kasten. Nun müsste ich die schnellstmöglich entwickeln lassen. Kein Problem, schließlich hatte ich noch vier Tage bis zum Abgabeschluss.
Weit gefehlt, wie ich am gleichen Abend realisierte, denn neben den drei Fotos, einer DVD und Kopien mehrerer Dokumente, sollten ein Lebenslauf zur Veröffentlichung und ein “breve release do trabalho”, ein Text zur fotografischen Arbeit, eingereicht werden – selbstverständlich auf Portugiesisch.
Die Teilnahme am III Prêmio de Fotografia 2012 des Club Transatlântico war beschlossene SacheIch würde mich nicht auf der Zielgeraden geschlagen geben, nicht nachdem ich bereits so viele Herausforderungen bewältigt hatte. Es sollte doch wohl zu schaffen sein, mein Vorhaben schriftlich zu formulieren, auch wenn sich meine portugiesischen Texte bis zu diesem Zeitpunkt auf Textnachrichten und kurze E-Mails beschränkt hatten.
Ich hatte Menschen, die das Grün in die Stadt bringen, portraitiert. Die bildeten drei Sektoren ab. Der Carregador, der auf dem CEASA, dem Blumenmarkt, Pflanzen und Blumen zum Endkunden bringt, repräsentierte den kommerziellen Sektor. Genivaldo, der Gärtner aus Leidenschaft, stand für den privaten Sektor und der Arbeiter von DEMAX, dem Dienstleister der Prefeitura, veranschaulichte die Aktivitäten im öffentlichen Sektor.
Es dauerte einige Stunden, bis ich den eineinhalb Seiten langen Text geschrieben hatte. So qualvoll die waren, schickte ich meine Ausführungen – nicht ohne einen gewissen Stolz – an meine Lektorin, eine Muttersprachlerin, mit der ich mich regelmäßig zum Sprachaustausch treffe.
Selbst wenn sie kein gutes Haar an meinem Text lassen würde: Ich hatte meinen ersten längeren, komplexen Text auf Portugiesisch zu verfassen. Als ich kurze Zeit die korrigierte Textdatei öffnete, war ich begeistert, denn die Fehler waren überschaubar.
Wenn der gesamte Wettbewerb so schnell und unkompliziert verlaufen wäre, wie die Eingabe der Korrekturen! Ein einfaches Stichwort – der Hinweis darauf, dass die Wettbewerbsfotos eine schlüssige Geschichte erzählen sollten – hatte mich zur Teilnahme bewogen. Das hätte ich leichter haben können, indem ich einfach eine Geschichte schreibe, zu welchem Thema auch immer. Und doch bin glücklich und dankbar, dass ich die Herausforderung des III Prêmio de Fotografia 2012 angenommen habe, denn die gemachten Erfahrungen, mögen sie in den jeweiligen Momenten noch so aufreibend gewesen sein, möchte ich um keinen Preis missen.

Mittwoch, 31. Oktober 2012

“Os esforços e as alegrias de uma fotógrafa amadora” oder „Die Mühen und Freuden einer Amateurfotografin“ (1)

Um über die saisonal stark angestiegenen Aktivitäten innerhalb der deutschen Community im Bilde zu sein, hatte ich den Newsletter des Club Transatlântico studiert und war so – eher zufällig – auf den III Prêmio de Fotografia 2012, einen Fotowettbewerb zum Thema “Verde na Metrópole”, „Grün in der Stadt“, gestoßen.
Diese Ausschreibung könnte etwas für meinen Mann sein, der einige Monate zuvor seine Leidenschaft für die Fotografie entdeckt hatte. Tatsächlich vergeht kein Wochenende, an dem wir nicht mindestens eine Fotosafari unternehmen, häufig mit erstaunlichen Ergebnissen. Kommentarlos leitete ich den Newsletter weiter, gespannt, ob mein Mann das Stichwort Fotowettbewerb, das ich in die Betreffzeile geschrieben hatte, aufgreifen würde.
Mit dem Oktoberfest des Club Transatlântico gewann die Causa Fotowettbewerb, zu der sich mein Mann bis dahin eher vage geäußert hatte, an Dynamik. Im Rahmen einer harmlosen Plauderei hatten wir aus Insiderkreisen erfahren, dass viel Wert darauf gelegt würde, dass die drei einzureichenden Fotos eine in sich schlüssige Geschichte erzählten.
Es war, als hätte sich mit diesem Stichwort ein Schalter umgelegt. Während mein Mann das kurze Gespräch weiterführte, kam mir, ohne dass ich zuvor eine eigene Teilnahme ernsthaft in Erwägung gezogen hatte, die zündende Idee.
Ich könnte über Menschen berichten, die das Grün in die Megacity bringen, zum Beispiel über die Akteure des CEASA, des drittgrößten Blumenmarktes weltweit. Doch damit war es nicht getan.
Zwei Tage später begann ich mit der Recherche, denn das Thema ließ mich nicht mehr los. Ich stieß auf eine Hilfsorganisation, von deren Begrünungsprojekt ich begeistert war. Nun hatte ich zwei Motive.
Mit dem CEASA würde ich den kommerziellen und mit der Hilfsorganisation den privaten Sektor abbilden, indem ich deren idealistisch motiviertes Projekt präsentierte. Blieb der öffentliche Sektor.
Immer wieder waren mir uniformierte Männer aufgefallen, die für die Prefeitura, die Stadtverwaltung, Bäume beschnitten. Das wäre ein eindrucksvolles Motiv, doch ich könnte nicht tagelang durch die Stadt streifen, in der Hoffnung, einem Trupp zu begegnen.
Sicher würde mich der Internetauftritt der Prefeitura weiterbringen. Doch weit gefehlt, wie ich nach ausführlicher Durchsicht der Seiten der Secretaria Municipal do Verde e do Meio Ambiente, des Referats für Grün und Umwelt der Stadt São Paulo, feststellen musste.
Ich berichtete meiner Sprachlehrerin von meinem Vorhaben und meiner Recherche in Sachen Prefeitura. „Ich nehme Dir nur ungern Deine Illusionen, doch ich muss Dir leider mitteilen, dass es nur einen einzigen Grund gibt, warum die Prefeitura die Bäume beschneidet: Es gilt, die Strommasten zu schützen und Stromausfälle zu verhindern. An die Umwelt denkt die Prefeitura hier nicht“, erklärte die informierte Paulistana.
Plötzlich erinnerte ich mich an ein Schulprojekt, das mir im Rahmen meiner Recherche ins Auge gefallen war. Allerdings, so erklärte ich, hätte ich hierzu nicht allzu viele Informationen und vor allem keine Kontaktdaten gefunden. „Lass mich einmal in der Zentrale der Secretaria Municipal do Verde e do Meio Ambiente anrufen. Vielleicht kann dort jemand weiterhelfen“, erklärte meine Sprachlehrerin hoffnungsvoll, und ließ sich die Telefonnummer diktieren.
Das Telefonat zog sich in die Länge, denn Heloisa wurde nicht nur einmal weiterverbunden und erhielt schließlich eine Telefonnummer, unter der sie mit einem für das Schulprojekt zuständigen Mitarbeiter sprechen könnte.
“Tá bom”, gut, “tá”, ja, “tá okay” – viel mehr sagte Heloisa während dieses zweiten, kurzen Gesprächs nicht, doch ihr Blick war nicht gerade verheißungsvoll. Wegen der Bürgermeisterwahlen, so berichtete sie anschließend, sei das Schulprojekt ausgesetzt. Aktuell würde dies nur im Interior, dem Landesinnern des Bundesstaates São Paulo, durchgeführt. Beiläufig berichtete Heloisa dann vom Viveiro Manequinho Lopes, einer Gärtnerei auf dem Gelände des Parque Ibirapuera, die der Prefeitura untersteht. Doch diesen Ansatz vertieften wir nicht.
Am gleichen Abend, im Rahmen der Feier des Tages der Deutschen Einheit, wieder im Club Transatlântico, beschloss ich, mein Projekt weiter voran zu bringen. Nachdem ich den CEASA, den Blumenmarkt, im März mit einer Gruppe deutscher Ikebana-Schülerinnen besucht hatte, schwebte mir zur Umsetzung meines Fotoprojekts eine ähnliche Konstellation vor, denn so hätte ich die Möglichkeit, unkompliziert Kaufsituationen oder Interaktionen mit den Carregadores, denjenigen, die die Waren zum Auto bringen, abzulichten.
Kaum hatte ich der Blumenfee, die ich im Kontext des vergangenen CEASA-Besuchs kennen gelernt hatte, mein Projekt umrissen, erhielt ich ein positives Signal. Wir könnten uns gern für den Freitag der kommenden Woche verabreden. Das würde zwar eng, doch ich war glücklich über die Begleitung und zuversichtlich, dass ich mein Projekt im Zeitrahmen abschließen könnte.
Eine Schrecksekunde stellte sich allerdings ein, als ich zuhause feststellte, dass das von uns in Auge gefasste Datum auf einen Feiertag fallen würde. Hoffentlich könnte die Blumenfee auch am Dienstag vor dem Feiertag, denn andernfalls müsste ich mir etwas anderes einfallen lassen. Sie konnte und ich hatte eine Sorge weniger.
Fristende in elf Tagen
Nun tickte die Uhr wirklich, denn noch hatte ich kein einziges Foto für den III Prêmio de Fotografia 2012 geschossen. Ich hatte zwar eine Verabredung für den Besuch des CEASA getroffen, mehr aber eben nicht.
Ich müsste Kontakt mit dem Hilfswerk aufnehmen und mit der Prefeitura weiterkommen. Endlich machte ich Nägel mit Köpfen. Ich bereitete eine Mail an das Hilfswerk und die Prefeitura vor, die ich sicherheitshalber mit einem Kollegen meines Mannes durchsprach, denn die Anzahl meiner offiziellen, auf Portugiesisch verfassten Mails, hält sich noch in Grenzen. „Die Mails sind gut“, lobte der Kollege. „Wenn Sie nicht weiterkommen, melden Sie sich einfach. Ich rufe parallel auch einmal bei der Prefeitura an. Vielleicht finde ich etwas heraus“, schloss er.
Hektik auf dem CEASA
Um 6.30 Uhr, zehn Tage vor Ablauf des Wettbewerbs, traf ich zusammen mit der Blumenfee auf dem CEASA ein, der zu diesem Zeitpunkt bereits anderthalb Stunden in vollem Gange war.
Die Kamera war griffbereit. Ich legte los, denn meine Stärke, so hatte ich bislang gedacht, liegt im situativen Fotografieren. Doch so einfach, das war schnell klar, würde es nicht werden, denn wenn immer ich eine Situation oder einen Protagonisten ins Auge gefasst hatte, hatte sich das Motiv in spe auch schon wieder weiterbewegt.
Mit der rasenden Geschwindigkeit, mit der hier Geschäfte abgewickelt werden, hatte ich nicht gerechnet. Ich produzierte gefühlt tausende verwackelter Bilder, lichtete Hinterteile oder abgeschnittene Extremitäten ab.
Verharrte einmal ein potentieller Protagonist für wenige Minuten, tat er dies selbstverständlich im Gegenlicht. Es war zum Verrücktwerden, bis plötzlich ein Hoffnungsschimmer aufkeimte, denn ein sympathischer Mann sprach mich an und erklärte, dass ich ihn gern vor seinen riesigen Palmen ablichten könne. Ich konnte mein Glück nicht fassen, denn fotogen war der junge Mann noch dazu. Ich knipste drei Mal, bis der nächste Kunde kam. Endlich hatte ich mein Bild im Kasten.
Doch sicher ist sicher. Wenige Meter weiter prüfte ich das Material und musste feststellen, dass zwei Bilder nicht ganz scharf waren und meinem Model beim dritten, soweit gelungenen Foto ein Palmenblatt im Gesicht hing. Fast erleichtert stellte ich kurz darauf fest, dass die Akku-Kapazität erschöpft war, denn ich war es auch. Irgendein brauchbares Foto würde schon dabei sein, hoffte ich.
Eine folgenreiche Busfahrt
Mein Mobiltelefon klingelte, während ich am Nachmittag meines CEASA-Abenteuers mit dem Bus unterwegs war. Mein persönliches Worst Case Szenario, denn noch bin ich am Telefon etwas unsicher, wenn es darum geht, komplexe Sachverhalte in Portugiesisch zu kommunizieren. Im Bus ist dies gleich drei Mal so schwierig, da ich selbst meinen Mann, der klarstes Deutsch spricht, in diesem geräuschvollen Verkehrsmittel selten verstehe.
Da ich die Rufnummer nicht kannte und nicht riskieren wollte, einen Anruf der Hilfsorganisation oder gar der Prefeitura zu versäumen, nahm ich den Anruf tapfer entgegen. “Esther?”, hörte ich eine leise Stimme, die klang, als befände sich der Sprecher am anderen Ende der Welt. “È ela”, antwortete ich tapfer. „Ich rufe von den Gemeinschaftsgärten, der Hilfsorganisation, an“, waberte es auf Deutsch durch die schlechte Leitung. „Das ist großartig“, brüllte ich in das kleine Telefon und spürte, wie sich die Blicke der Busfahrenden aus den Vorreihen in meine Richtung orientierten. Ich könne gern morgen vorbeikommen, führte der Mann aus. „Das passt ausgezeichnet. Ich komme gern“, erklärte ich begeistert! Die Wegbeschreibung würde er mir per Mail zuschicken.
Ein Weg ans andere Ende, der Megacity-Welt lag vor mir…

“Os esforços e as alegrias de uma fotógrafa amadora” oder „Die Mühen und Freuden einer Amateurfotografin“ (2)

Eine Wegbeschreibung
Morgen würde ich die Hilfsorganisation besuchen, um über ihre Begrünungsprojekte zu erzählen. Dann hätte ich bereits zwei Motive für den III Prêmio de Fotografia 2012. Alles funktionierte reibungslos. Auch die Mail mit der Wegbeschreibung erhielt ich vereinbarungsgemäß am gleichen Abend.
Kaum hatte ich jedoch die ersten Zeilen überflogen, stellten sich Zweifel an der Umsetzbarkeit meines Vorhabens ein. Nicht nur, dass ich die halbe Stadt durchqueren und in einer gänzlich unbekannten Region nach Bussen suchen müsste. Ich müsste auch eine Avenida überqueren, vor deren hohem Verkehrsaufkommen mich der Leiter der Hilfsorganisation explizit warnte. Mit Grauen erinnerte ich mich an mühsame Überquerungsversuche am Parque Ibirapuera oder der Avenida dos Bandeirantes. Doch Hadern half jetzt nicht.
Ich hatte keinerlei Vorstellung davon, in was für eine Gegend ich geraten würde, denn die Organisation beschäftigt sich nicht zuletzt mit der Begrünung von Favelas. Zur besseren Vorbereitung konsultierte ich daher zusätzlich Google Maps und die Seiten von SP Trans, des städtischen Verkehrsverbandes. Doch es wurde nicht besser.
In jedem Fall müsste ich zwei bis drei Mal umsteigen und würde zwischen eineinhalb und zweieinhalb Stunden brauchen, um an das andere Ende der Megacity zu gelangen. Wenn ich am Fotowettbewerb teilnehmen wollte, hieß es jetzt „Augen zu und durch“.
Vielleicht wüssten Tereza oder Heloisa, die Sprachlehrerin, mehr über die Gegend, die ich der Zona Norte, der Nordzone, zurechnete. Tatuapé, die Metrô-Station, an der ich in den Bus wechseln sollte, sei, so erklärten beide Befragte einhellig, eine Gegend, die durchaus mit Brooklin, unserer Heimat in der Zona Sul, der Südzone, vergleichbar wäre. Ich war erleichtert und traf eine Entscheidung. Auf dem Hinweg würde ich an der Metrô-Station ein Taxi nehmen, schon um nicht auf den letzten Metern, bei der Überquerung der Avenida, von einem Auto erfasst zu werden. Auf dem Rückweg könnte ich immer noch auf die öffentlichen Verkehrsmittel zurückgreifen.
Aufbruch ins Ungewisse
Im Aufbruch erzählte ich unserer Empregada, der Haushaltshilfe, dass ich mich nun auf den Weg nach Aricanduva machen und sicher erst zurückkehren würde, wenn sie selbst bereits gegangen sei. Mit dem Wort Aricanduva versteinerte der Gesichtsausdruck der fröhlichen Frau, die genau zu wissen schien, worauf ich mich einließ. Bloß nicht nachfragen, schoss es mir in den Kopf. Auf zur Bushaltestelle!
Einmal an der Metrô angekommen, trennten mich nur noch sechs Stationen von meinem Zwischenziel Tatuapé. Als sich dort die Türen öffneten, stellte sich heraus, dass die Station über einen direkten Zugang zu einem Shopping, einem Garanten für einen Ponto, einen Taxistand, verfügte. Ich durchstreifte also bester Dinge das angenehm kühle Shopping, auf der Suche nach einem entsprechenden Hinweisschild. Vergeblich.
Schließlich umrundete ich das gesamte Shopping. Irgendwo müsste es einen Ponto geben, dachte ich, denn an ausnahmslos allen mir bekannten Shoppings hatte ich jeweils zahllose Taxis beobachtet, die Einkäufer und deren oft sperriges Gut aufnehmen. Hier war dies offensichtlich anders.
Ich bog in die größte der Straßen, auf die ich bei meiner Umrundung gestoßen war, ein. Ein Block, zwei Blocks, drei Blocks. Nichts. Jetzt wählte ich die nächste größere Straße und kämpfte mich durch die Mittagshitze. Nirgendwo ein Ponto oder auch nur ein Taxi, das ich hätte anhalten können. Ich ging weiter, bis ich nach nochmals vier oder fünf Blocks endlich einen Ponto erspähte. Ein einziges Taxi stand dort, auf das ich mich entkräftet stürzte.
Ich müsste nach Aricanduva, zu einer Straße in unmittelbarer Nähe der Avenida Rio das Pedras. Der ältere Taxifahrer schaute mich nachdenklich an, schüttelte bedauernd den Kopf und erklärte schließlich, dass er, mit Ausnahme der Avenida Aricanduva, keine der genannten Straßen kenne und auch kein Navigationssystem besitze. Eine für Brasilien eher ungewöhnlich direkt (negative) Antwort, denn nicht nur einmal habe ich erlebt, dass Taxifahrer zuversichtlich starten, um dann hilflos durch die Gegend zu irren, was bei eigener fehlender Ortskenntnis ein eher zweifelhaftes Vergnügen ist.
Während ich erwog, meinen Ausflug an dieser Stelle abzubrechen und unverrichteter Dinge zur Station zurückzukehren, trafen wie aus dem Nichts zwei weitere Taxis am Ponto ein. Geradezu erleichtert konsultierte der ältere Taxifahrer die Kollegen. „In der Straße wohne ich“, erklärte einer der beiden Neuankömmlinge und öffnete mir die Tür. Ende gut, alles gut, dachte ich dankbar.
Dann fuhren wir los, weiter, immer weiter, und ich wurde darüber informiert, dass sich unser Ziel nicht, wie angenommen, in der Nordzone, sondern in der Zone Leste, der (gefürchteten) „Ostzone“ befände. Auch gut, zumal der Taxifahrer interessante Dinge über diese Gegend zu berichten wusste. So erfuhr ich alles Wissenswerte über das Shopping Aricanduva, das größte Shopping Lateinamerikas, das wir nach einer gefühlten Ewigkeit passierten, über die wirtschaftliche und soziale Lage in diesem Bereich der Megacity, über korrupte Lokalpolitiker, nicht eingehaltene Wahlversprechen und über vor Ort aus dem Boden schießenden Sekten, bis wir schließlich nach ungefähr 30 Minuten Fahrt in die Zielstraße einbogen.
Willkommen in der Periferia
Wir hielten vor einem zweistöckigen Gebäude. Da auf den ersten Blick nichts auf die Organisation hindeutete, stieg mein fürsorglicher Taxifahrer mit aus. Wir betraten das Haus, dessen Eingangstür geöffnet war und prüften die Briefkästen, ohne Ergebnis. Ich stieg die Treppe hinauf und stieß auf zwei Gittertüren, eine davon mit der Nummer 06 versehen und klingelte. Ich würde schon erwartet, begrüßte mich ein sympathischer junger Mann, typisch brasilianisch, mit Umarmung und angedeutetem Kuss auf die Wange, während ich mich von meinem Taxifahrer-Tourguide verabschiedete.
Os esforços valeram oder „Die Mühen hatten sich gelohnt“
Schließlich traf ich auf Hans Dieter Temp, den Gründer von “Cidades sem Fome”, „Städte ohne Hunger“, einen Deutsch-Brasilianer der dritten Generation aus Rio Grande do Sul, dem südlichsten der 27 Bundesstaaten, Ausgangspunkt seines persönlichen Engagement.
Der Betriebswirt, der von 1993 bis 1996 in Tübingen zusätzlich eine Ausbildung zum Techniker für Landwirtschaft und Umweltpolitik absolviert hatte, erzählte seine Geschichte, die so spannend war, dass sie mich von der ersten Sekunde an fesselte.
„Städte ohne Hunger“, so erfuhr ich, ermögliche mittlerweile in vier einkommensschwachen Bereichen der Zona Leste São Paulos (Cidade Tiradentes, São Mateus, Itaquera, São Miguel Paulista) die soziale Eingliederung gesellschaftlicher Randgruppen durch Gartenbau und leiste einen wirksamen Beitrag gegen die vorhandene Unter- und Fehlernährung.
Die Nichtregierungsorganisation versuche gezielt, brachliegende öffentliche oder private Grundstücke nutzbar zu machen, auf denen die lokale Bevölkerung Gemüse- und Obstgärten anpflanze. So käme ein Teil dieser Menschen in Arbeit, erhielte dazu eine solide Ausbildung und könne durch den Verkauf der Ernte ein bescheidenes Einkommen erzielen. Zusätzlich werde durch das nährstoffreiche, biologisch erzeugte Gemüse- und Obstangebot die Gesundheits- und Lebensqualität erhöht. Dies sei insbesondere für die Kinder wichtig, die in diesen Stadtteilen sehr selten frische und biologische Nahrungsmittel erhielten.
Sobald die Gärten erfolgreich der Gründungsphase entwachsen seien, würden sie von den jeweiligen Akteuren kollektiv selbstverwaltet. Daraus resultiere einer der wesentlichen Projekterfolge – die Identifikation der Menschen mit ihrem Garten und dem, was sie tun.
Obwohl landwirtschaftliche Nutzfläche, leisteten die Gärten auch einen wesentlichen Beitrag zur kulturarchitektonischen Stadtentwicklung, denn in großen Teilen der Periferia und in den schnell- und wildwachsenden Favela-Siedlungen gäbe es so gut wie keine Grünflächen, Parks oder zur Erholung ausgewiesene öffentliche Freiräume. 21 Gemeinschaftsgärten gebe es inzwischen, von denen mehr als 700 Menschen direkt und an die 4.000 indirekt profitierten. 48 Kurse seien seit Entstehung des Projekts im Jahr 2004 bereits durchgeführt worden.
Doch ich sollte mir selbst ein Bild machen – und natürlich das für den Wettbewerb erforderliche Foto schießen, das mich hierher geführt habe. In einer nahegelegenen Favela könne ich die Anfänge eines Gemeinschaftsgartens sehen, später einen Garten, der seit geraumer Zeit existiere.
Wir holen den Schlüssel für den eigezäunten, in der Entstehung begriffenen Garten, der sich auf dem Gelände einer nicht mehr betriebenen Gaspipeline am Rande einer Favela befindet, bei Ivone, die für den Gemeinschaftsgarten verantwortlich zeichnet, ab. Baile Funk, eine brasilianische Form des Hip Hop, wummerte durch die engen Gassen. Sie werde gleich zu uns stoßen, erklärt die 53-jährige, die aus Borazópolis im Bundesstaat Paraná stammt.
Bis zum Aufbau des Gartens vor wenigen Monaten, so erfuhr ich, sei die Mutter dreier Kinder, die selbst im Alter von 18 Jahren nach São Paulo gekommen war, längere Zeit ohne Arbeit gewesen.
Erstaunlich, wie viel in diesem Garten bereits wächst und gedeiht, geht mir durch den Kopf. Ob es nicht gefährlich und vor allem potentiell gesundheitsgefährdend sei, Obst und Gemüse auf einer ehemaligen Pipeline anzupflanzen, will ich wissen. Nein, das sei es nicht, beruhigt mich Hans Dieter. Es werde viel Erde aufgeschüttet und man achte darauf, Pflanzenarten mit flachen Wurzeln anzubauen, erklärt er, als Ivone schließlich zu uns stößt, die sich für die Fotosession in Schale geworfen hat. Wie stolz sie auf ihren Garten ist, verströmt die sympathische Frau ebenso wie ihr Parfum.
Ich blicke um mich, suche nach dem passenden Foto-Hintergrund und entscheide mich für das Klischee: den Gemüsegarten im Vordergrund, dahinter unverputzte Favela-Häuser, auf deren Dächern die Wäsche im Wind weht. Bereits während ich fotografiere, stellt sich allerdings die Befürchtung ein, dass ich die Fotos später nicht verwerten kann, denn – so gut ich nachvollziehen kann, dass Ivone sich schön gemacht hat – der Betrachter würde sich wohl irritiert die Frage stellen, warum die strahlende, dunkelhaarige Frau ihre Gartenarbeit in einem tiefausgeschnittenen, schwarz-glitzernden Shirt, wohlfrisiert und mit frisch aufgetragenem Lippenstift erledigt.
Wir verabschiedeten uns und fuhren weiter„Du wirst sehen Genival, der zusammen mit drei anderen Familien den Gemeinschaftsgarten in São Mateus betreibt, ist ein ganz besonderer Gärtner, der noch dazu ausgesprochen fotogen ist“, erklärte Hans Dieter, dem nicht entgangen war, dass ich, so beeindruckt ich von Ivone und ihrem Garten in der Favela gewesen war, im Hinblick auf den III Prêmio de Fotografia 2012 nicht weiter gekommen war. Hans Dieter sollte recht behalten.
Genivaldo, ein 63 jähriger Pernambucano, der bezeichnenderweise aus einem Ort mit Namen Bom Jardim (guter Garten) stammt, beindruckte mich sofort. Der schlanke, kleine Mann, der, wie ich erfuhr, stets einen weißen kurzärmeligen Kittel über seiner Hose trägt, an der ein scharfes Messer befestigt ist, lief wieselflink durch seinen Garten und sprengte. Barfuß durchquerte er den 4.400 Quadratmeter großen Gemeinschaftsgarten, vom dem er die größte Fläche bewirtschaftet.
Er möge sich nicht stören lassen, ich würde einfach nur seine Arbeit dokumentieren, erklärten wir. Es war eine solche Freude, dem Vater von acht Kindern bei seiner Arbeit zuzusehen, die er augenscheinlich aus vollem Herzen liebte. Jede einzelne Pflanze kennt der Gärtner, der neben den klassischen Obst- und Gemüsesorten auch Heilpflanzen anbaut. Wenn ich Bauchweh hätte, würden Boldoblätter helfen, wenn ich nicht schlafen könne, sollte ich es mit Melisse versuchen, die sei viel wirksamer als die Maracuja, die in Brasilien als die Substanz gegen Schlafstörungen gilt.
Der agile Mann ist ein wahres Lexikon, auch was seine Kunden betrifft. Er kennt sie alle, ihre Geschichten, Nöte und Sorgen. Die Kunden mögen ihn, das ist spürbar, und freuen sich nicht nur über die erschwinglichen, gesunden Nahrungsmittel, sondern auch über den Austausch mit diesem in sich ruhenden, fröhlichen Mann, der auch mir nicht nur wundervolle Fotos, sondern auch spannenende Einblicke und Leckeres, in meinem Beisein geerntetes Gemüse geschenkt hat.